In den Reutlinger Wandel-Hallen wurde am Freitag die Ausstellung „Konkrete Progressionen“ eröffnet
REUTLINGEN. Die Kernfrage der Konkreten Kunst lautet: Kann mathematische Ordnung Schönheit erzeugen? Schon in der Antike hat Pythagoras das mit einem klaren Ja beantwortet: Harmonie beruht auf Zahlen und ihren Verhältnissen. In den Reutlinger Wandel-Hallen eröffnet am heutigen Freitagabend um 19 Uhr eine Ausstellung mit dem Titel „Konkrete Progressionen“, die sich vieren der bedeutendsten Künstler dieser Stilrichtung widmet: François Morellet, Vera Molnar, Manfred Mohr und Hartmut Böhm.
Die Abteilung „konkret“ des Kunstmuseums Reutlingen im Obergeschoss der Wandel-Hallen an der Eberhardstraße beruht auf der jahrzehntelangen Arbeit des verstorbenen Sammler- und Stifterpaares Manfred Wandel und Gabriele Kübler. Viele Werke sind eigens für diesen Ort geschaffen worden.
Die Wandel-Erben haben die weltweit bedeutende Reutlinger Sammlung vor Jahresfrist noch einmal mit der Schenkung von rund 800 weiteren Werken bedacht. Kurator Holger Kube Ventura hat daraus eine Ausstellung gemacht, die anhand ikonischer Werke des Bestandes und der besten Neuzugänge einen Querschnitt bietet, wie er Konkrete Kunst kaum besser darstellen könnte. Überwältigend. Gerade in diesen unglaublich lichten und sachlich schlichten Räumen.
François Morellet, 1926 geboren und 2016 gestorben, mag in diesem Quartett als bedeutendster Name gelten und steht mit 17 von 50 Werken zurecht im Zentrum der Schau. In Zeiten, in denen sogenannte Künstliche Intelligenz in allen Lebensbereichen in aller Munde ist, für die sich das internationale Kürzel AI („artificial“) durchsetzen wird, dürfte sich das Augenmerk mindestens ebenso sehr, wenn nicht gar noch schärfer auf die 1924 in Budapest geborene und hochbetagt in Paris lebende Vera Molnar richten, die laut Kube Ventura als Pionierin der computergestützten Kunst gelten darf.
Auch der aus Pforzheim gebürtige Manfred Mohr, eine musikalisch-bildnerische-literarische Tripelbegabung, mit Jahrgang 1938 der jüngste der vier bedeutenden Protagonisten dieser streng rationalen Kunstrichtung, lebt und arbeitet noch, nach vielen Jahren in Frankreich, längst schon in New York. Hartmut Böhm, aus Kassel stammend, selber Jahrgang, bedeutender Hochschullehrer, ist vor zwei Jahren gestorben und galt als „radikaler Konstruktivist“, was für die anderen aber uneingeschränkt gleichermaßen als Etikett gelten könnte.

Es sind keineswegs hochkomplexe Algorhythmen, die solcher Kunst unterlegt sind, sondern gerade einfache Zahlen und Ordnungsverhältnisse, die allerdings – wie die irrationale Kreiszahl Pi ( π ) oder der Goldene Schnitt als Zielpunkt der Fibonacci-Reihe – eine Dimension ins Unendliche haben. Kreis, Dreieck, Quadrat, Würfel, exakte Sinuskurven – diese Formen tauchen allüberall in dieser Ausstellung auf. Weiß und Schwarz – seit Kasimir Malewitschs „Schwarzem Quadrat“ von 1917 ikonisch – dominieren. Farben, vor allem bunte, sind eher selten. Auch bei den räumlich-plastischen Kunstwerken herrschen schlichte Materialien wie Stahl und Stein vor.
Manfred Wandel und Gabriele Kübler neigten als Ausstellungsmacher im Überschwang eher zur Fülle, wenn auch nie ganz zur chaotisch freien „Petersburger Hängung“. Holger Kube Ventura hat sich zur klaren Reduktion entschlossen, was Sinn und Prinzip der konkreten und konstruktivistischen Kunst ja durchaus angemessen ist. Die 50 Arbeiten haben ausreichend Raum und Platz, wodurch sie allen, die sich darauf einlassen, ihre Magie enthüllen und entfalten können, die tatsächlich nicht nur meditative Ruhe, sondern auch poetischen Zauber verstrahlen kann.
Die Handwerker des Kunstuseums haben übrigens großartig präzise Arbeit beim Aufbau der Ausstellung geleistet. Für Künstler und Kuratoren gilt seit jeher: Man muss wissen, was man macht. Es schadet nicht, wenn auch die Betrachter um ein paar wenige mathematische Prinzipien wissen, die zum Konstruktionsprinzip dieser „Konkreten Kunst“ gehören – um ihre Wirkung nicht nur zu sehen, zu spüren, sondern auch zu verstehen.
„Konkrete Progressionen“ ist eine wunderbare, faszinierende Ausstellung des Schlichten und Klaren, der mathematischen Schönheit, des „Konkreten“ geworden, die Reutlingen – neben Ingolstadt und Zürich – seinen Platz als bedeutendes Zentrum dieser Kunstform noch weiter festigen wird.
