Auf der Tübinger Platanenallee hat der Melchinger Lindenhof mit der Hofmannsthal-Adaption „jedermann (stirbt)“ von Ferdinand Schmalz seine Sommertheater-Premiere
TÜBINGEN. Vor gut hundert Jahren hatte Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ Premiere. Ferdinand Schmalz hat das allegorische Mysterienspiel um Gott, Geld und Tod aktualisiert. Vor zwei Jahren, direkt nach Corona, brachte Hartmut Wickert die Adaption des Salzburg-Klassikers als eigenes Sommertheater des Lindenhofs auf die Melchinger Burgruine. Am Donnerstagabend war auf der Platanenallee Premiere der etwas verdichteten, verschlankten Inszenierung als Tübinger Theatersommer: ein doppeltes Recycling. Gewiss auch kostengünstig.
Den österreichischen Nachbarn ist Hofmannsthals „Jedermann“ und sein hoher Ton so präsent wie es den Deutschen vielleicht der „Faust“ mal war. Auf dem Salzburger Domplatz ist der Gründungs-Mythos der Festspiele, Urbild aller sommerlichen Bühnen-Open-Airs, trotz Wien, trotz Burgtheater das alljährliche Theaterereignis schlechthin. Und Ferdinand Schmalz ist mehr als ein aufregender junger Dramatiker: Er zählt längst zu den führenden intellektuellen Stimmen des Landes. Die Melchinger hatten, direkt vor Corona, als letztes Stück vor der Zwangspause seinen „Herzerlfresser“ auf ihre Scheunenbühne gebracht.

Natürlich drängen sich da Vergleiche auf. Das Rondell mit dem düster kriegerischen Silcher-Denkmal aus der Nazizeit auf der Neckarinsel war 1995 ein Schauplatz des Hölderlin-Spaziergangs »…wenn mit dem Neckar herab“, der unvergessliche Bilder einbrannte und Theatergeschichte schrieb: die lange Tafel mit Brot und Wein am Spitz, der weiß gewandete Engel auf der scheinbar hoch im Himmel verankerten Schaukel, der brüllende Dichter im Turmfenster gegenüber und schließlich auf dem brennenden roten Sofa den Neckar herabtreibend, die schuberthaften Klavierklänge.
Von solchen ikonischen Tableaus ist fast dreißig Jahre später nahezu nichts übriggeblieben. Im Gegenteil. Außer dem roten Vorhang und einer nüchternen Holzbühne (vom Duo Hofmannsthal/Max Reinhardt schon zur Berliner Premiere 1911 eingerichtet, ein Garten als Location des finalen Fests war auch verpönt), von Hartmut Wickert praktisch leergeräumt, außer Katharina Müllers Kostümen vermeidet die Inszenierung geradezu alles Bildhafte. Reines, pures, nacktes Schauspiel soll stattfinden.
Selbst auf der Melchinger Ruine, vor zwei Jahren, war die Verbindung zur Umgebung wichtiger, intensiver, organischer, übrigens auch akustisch günstiger. Um Bühne und die Ränge der amphitreatralischen Tribüne herum (mit ihren 350 fast voll besetzten Plätzen) geben die Platanen hier ihr grünes Dach. Abendlicht. Im Hintergrund sind das Schloss und sein Fünfeckturm zu sehen. Bloßer Hintergrund, nicht einmal Kulisse. Die durchgängig todes-symbolisch krächzenden Rabenscharen von dort hatten für ihren offenbar perfekt dressierten Auftritt wohl gut bezahlt bekommen. Aber eigentlich blieb die Szenerie ein völliger Fremdkörper im Ambiente.

Ferdinand Schmalz hat den „Jedermann“ aus der religiösen Sphäre säkularisiert, einen im Vorbild als unsichtbarer Strippenzieher noch präsenten, aber sterbenden Gott durch die Macht einer auf Geldzirkulation gegründeten kapitalistischen Zivilisation ersetzt, die insgeheim auch schon wieder todgeweiht ist. Die gebundenen Verse Hofmannsthals mit ihrem hohen Ton hat er ergänzt durch eine heutige Sprache, die auch mal ins Vulgäre („Geld zeugt Zeit. Geld zeugt Geld. Geld fickt dich.“) oder in allerhand bösen Wortwitz („Die Angst kommt dir wie die Altersflecken“) abzweigt.
Da ist auch mal, ganz selten, eine andere Reminiszenz an die alte Besonderheit des Regionaltheaters Lindenhof eingebaut: „Jetzt wird g’schtorba“, schwäbelt Petra Weimer als Jedermanns Frau ihren moribunden Mann an, den Franz Xaver Ott etwas leiser, etwas in sich gekehrter als in der Erstfassung gibt: vom zynischen Zocker zum Todgeweihten, der um Nähe, Gnade, Beistand bettelt.

Auch die Frauenrollen der Mutter (Ursula Bürkert mit Stock und blauem Harlekins-Kopfschmuck), der Gattin und vor allem der Buhlschaft Linda Schleps machen ihre Sachen gut, in der schwierigen schallschluckenden Akustik nicht zuletzt auch sprachlich: ihre großen Monologe und die Dialoge mit dem Jedermann. Gut verständlich ist auch Bertold Biesinger in seiner kraftgeladenen Mehrfachrolle als strizzihafter Vetter, Mammon und „gute Werke“, darunter als Charity in Trans-Klamotte.

Den „armen Nachbarn (und) gott“, halbnackt aufgelesen, in den Anzug gesteckt und zum Fest geladen, dann beschmutzt und wieder entkleidet, spielt Bernhard Hurm vielleicht etwas zurückgenommener, vielleicht auch nicht mehr ganz so stotzend expressiv wie vor zwei Jahren. Man versteht ihn oft auch weniger gut als auf Hohenmelchingen. Der Soundtrack von den DJ’s Julia Koch und Samuel Kübler mit ihrem durchgängigen Herzschlag-Beat ist auch etwas reduziert worden, nur einmal zur Party schwingt er sich zu ganzem Techno auf. Sehr agil hingegen das Trio von coolen Börsen-Brokern, servilen Bediensteten und „teuflisch guter Gesellschaft“ aus Rino Hosennen, Hannah im Hof und Luca Zahn.
Ein „allerletztes Fest, ein Totentanz“ lauten die letzten Worte bei „jedermann (stirbt)“; nichts Gravitätisches wie bei Hofmannsthal. Die Frage bleibt, ob ein Tübinger Publikum, dem wahrscheinlich weder der „Jedermann“ noch gar seine kapitalismuskritische Auffrischung so geläufig sind wie den österreichischen Nachbarn, wirklich etwas anfangen konnte mit diesem steilen Stoff voll Mythos, Moral und mittelalterlicher Mysterien-Moritat. Der freundliche und einhellige Beifall der Premierenbesucher – nachdem die Akteure so verschwunden waren, wie sie aus dem roten Vorhand heraus zu Beginn ihren Auftritt hatten – wirkte doch etwas verhalten, vielleicht ein wenig ratlos und war nicht von überlanger Dauer.
Weitere Termine: Das Sommertheater des Melchinger Lindenhofs mit „jedermann (stirbt“) von Ferdinand Schmalz nach Hugo von Hofmannsthal wird ab dem 17. Juli bis zum 3. August von Mi bis So auf der Tübinger Neckarinsel gespielt. Beginn jeweils 20.30 Uhr.
