Beim 5. Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie in der Reutlinger Stadthalle überstrahlt die Violinsolistin Noa Wildschut ein ganz ausgezeichnetes Orchester
REUTLINGEN. Wer immer diese junge holländische Violinsolistin für das 5. Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie in der fast ausverkauften Reutlinger Stadthalle gefunden hat – vielleicht war es Chefdirigentin Ariane Matiakh selber: Das war eine ganz wunderbare Entdeckung. Um Mendelssohns Violinkonzert mit Solistin Noa Wildschut herum ging es an diesem Montagabend mit Hector Berlioz und Richard Strauss um Orchesterklang und Orchesterfarbe, mit sehr eindrücklichen Ergebnissen.

Die „Idée fixe“ als französische Variante thematisch-motivischer Arbeit ist das Eine. Mit seinen Besetzungsideen hat Hector Berlioz (1803 bis 1869) europäische Maßstäbe gesetzt für die Sinfonik seines Jahrhunderts. Aus dem Material seiner wegen hanebüchener Handlung durchgefallenen Oper „Benvenuto Cellini“ hat er im Jahr 1844 kurzerhand eine „Ouverture charactéristique“ mit dem Titel „Le Carnaval romain“ gemacht, die den figürlich sehr geregelten Rausch des römischen Karnevals in ekstatischen Klängen feiert. Viel Lametta, viel Effekt, viel Brimborium, mögen manche Kritiker finden, aber das ist eine Geschmacksfrage.
Für ein Orchester ist es eine dankbare Präsentation aller Orchestergruppen, erst recht wenn es eine Ariane Matiakh so klar und genau – bis in die präzisen Gegenrhythmen – und in kontrastreicher Spannung in großen Bögen ausarbeitet, ganz agogisch auskostet. Und dabei eine Kraft und bacchantische Begeisterung con fuoco feiert, die sofort aufs Publikum übersprang.
Beeindruckend war gleich schon, welch elegante Erscheinung da im blauen Abendkleid für Felix Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert e-Moll, einen kanonischen Klassiker des Genres, die Bühne betrat. Aber gleich mit den ersten Takten der langsamen Einleitung trat alles Äußerliche völlig in den Hintergrund: Sehr schlank, sehr legato, dabei sehr direkt, klar und bestimmt stellte die 23-jährige Noa Wildschut – Tochter zweier niederländischer Profi-Streicher und von Anne Sophie Mutter früh gefördert – das Thema in den Raum.
Anti-romantisch wäre der völlig falsche Begriff. Aber was Noa Wildschut alle dreieinhalb Sätze hindurch kultivierte, war jedem Kitsch, jeder Gefühlsduselei, allem pastosen Malen in Öl, jeder äußerlichen Rhetorik total abhold. Dabei fehlte es (bei einem sehr gezielt ausgewählten Unterarm-Vibrato) keineswegs an aller Agogik von ausgeprägtem Verdichten, Straffen, Bremsen, ausgekosteten Pausen, ungemein sensibel getragen von einem höchst aufmerksamen Orchester unter der souveränen Supervision der Dirigentin.
Nora Wildschuts Ton ist von strahlender Klarheit und besonders in den unteren Lagen von ergreifender Intensität. Die Läufe treten selbst im Piano allein durch ihre Präzision aus dem Orchesterklang hervor, von geschmackssicheren Impulsen auf die Reise geschickt. Glasklar und völlig ausgewogen auch die Doppelgriffe und die Arpeggien, keinerlei bloß demonstratives Vorführen von Virtuosität. Der dichte Strich gab ihrem Spiel im bevorzugten Legato etwas geradezu Erhabenes, Majestätisches, besonders in der Kadenz.
Aber auch die schlichte, liedhafte Melodik des langsamen Satzes wusste Noa Wildschut in tiefe Empfindung zu verdichten. Das Spiccato des tänzerischen Finales hatte nichts von einer Turnübung für die Bogenhand, sondern diente allein der genauen Kontur. Sie wurde gefeiert, ja umjubelt. Und in der Zugabe eines Tangos von Astor Piazzolla, setzte sie dieser disziplinierten Ekstase noch etwas drauf an technischer und musikalischer Clarté.

Einem geradezu mutwilligen Jugendwerk von Richard Strauss (1864 bis 1949) galt der zweite Teil des Konzerts. „Aus Italien“ hat er seine Sinfonische Fantasie betitelt, die nach einer entsprechenden, vom Vater gestifteten Kavaliersreise direkt vor seinem Antritt als Hornist der Münchner Hofkapelle – und 30 Jahre vor der „Alpensinfonie“, die dann nach Liszt das Genre der Sinfonischen Dichtung prägte wie kein anderes Stück – entstanden ist.
In diesen Tongemälden Goethes heitere Campagna, die monumentale Würde römischer Ruinen, die mediterrane Meeresbrise von Wagners Sommerfrische Sorrent zu erkennen, dürfte ohne Lesehilfe eher schwerfallen, allenfalls das wimmelnd farbige Chaos von Neapels Straßen lässt sich etwas leichter heraushören. Aber in diesem noch völlig traditionell harmonisierten Frühwerk zeichnet sich doch schon in groben Konturen ab, was Strauss‘ Orchesterklang in Oper, Lied und Sinfonik später so unverwechselbar macht: diese filigrane Farbigkeit, diese feinen Balancen und Übergänge, dieses „psychologische“ Element.
Dem spürte Ariane Matiakhs Interpretation sehr genau nach und wollte den süffig-feinherben Klangschmelz späterer Strauss-Sätze gar nicht anstreben, sondern dessen kraftvoll jugendliche Anlagen in Satztechnik, vielfältiger Rhythmisierung und Orchestrierung – sehr gut war das Schlagwerk, waren die hohen Streicher – in aller Klarheit und Prägnanz darstellen; vor allem auch jugendlich kraftvoll bis stürmisch. Bis auf ein paar Unaufmerksamkeiten ausgerechnet im Blech gelang das sehr eindrucksvoll.
Wie bei Berlioz: ein Schluss mit Applomb. Der Beifall war entsprechend begeistert, kam aber an den Jubel für die fantastische Violinsolistin vor der Pause nicht ganz heran.

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