Musik

ESG-Kurrende – Bachs Große Messe

Benedikt Brändle führt in der Tübinger Stiftskirche mit seiner ESG-Kurrende und dem Ensemble Hiemis Aetatis Bachs Große Missa in h-Moll auf

TÜBINGEN. Die H-Moll-Messe war für Bach sein Opus summum. Für Benedikt Brändle dürfte es auch so etwas wie die Krone seiner nun fast 40 Jahre als Dirigent der Kurrende gewesen sein, des Chors der ESG. Das Orchester Hiemis aetatis hat sich Brändle als winterliches Projekt-Ensemble auch über Jahrzehnte hinweg zu einem verlässlichen Pendant des großen studentischen Chors herangezogen. Die Stiftskirche war voll besetzt, als am Sonntagabend eine bemerkenswerte, ja großartige Aufführung begann. Sie endete in einem Jubel, der eines Stadions beim Heimspielsieg würdig gewesen wäre.

Johann Sebastian Bach (1685 bis 1750) hat eine Missa brevis, Keimzelle der großen Missa in h-Moll, während der stillen Trauerzeit um seinen katholischen Landesherrn, den sächsischen Kurfürsten August den Starken anno 1733, als zunächst vergebliche Bewerbung um die Stelle eines Dresdner Hofkapellmeisters eingereicht. Den Ehren-Titel eines Hof-Compositeurs bekam er nach einem zweiten Versuch. In seinen späten Jahren hat Bach „Kyrie“ und „Gloria“ zu einer Missa tota vervollständigt und in die Reihe seiner in gewisser Weise testamentarischen, modellhaft kanonischen Werke von den Goldberg-Variationen über das zweite Wohltemperierte Clavier bis zum Musikalischen Opfer und seiner im letzten Contrapunctus, dem 14., unvollendet gebliebenen Kunst der Fuge eingefügt.

Benedikt Brändle. Privatbild

Schon in den ersten vier Takten, dem dreifachen Kyrie-Ausruf schien sich die ganze Erfahrung von Benedikt Brändle zu verdichten. Keine Extreme, keine Übertreibungen. Nicht als hochdramatischen Hilfeschrei nahm er ihn, sondern als fast stoische innige Bitte, die sanft in ein absteigendes „Eleison/ Erbarme dich“) ausläuft. Flächig und als fließende Linie mit behutsamen Impulsen steigerte sich dann die Fuge bis zum Höhepunkt eines leeren Quintakkords, um den großen Bogen schließlich einem ruhig glaubensgewissen Ende entgegenzuführen.

Perfekt vorbereitet und hoch engagiert: die ESG-Kurrende. Fotos: Martin Bernklau

Wunderbar abgestimmt zwischen Chor und Orchester waren Gestus, Artikulation und Phrasierung. Schon hier: Kontur durch weich anstoßende Impulse statt hart markierender Akzente, keine knalligen Konsonanten, Deklamation durch ein geschmackvolles Schwer-Leicht, oft ganztaktiges Dirigieren für eine flüssige und geschmeidige Linie, kurz: Maß und Mitte. Nur mit einer einzigen Besetzungs-Abweichung im „Confiteor“ setzte Brändle ein eigenes, vom Standard abweichendes Signum.

In das „Christe“ der beiden Frauensoli – an der Seite der Mezzosopranistin und Altistin Marie-Henriette Reinhold war Sibylla Rubens kurzfristig für die erkrankte Johanna Ihrig eingesprungen – kam als Kontrast ein fast tänzerischer Zug. Auch die Männersolisten, Tenor Florian Sievers und Bariton Georg Gädker mit seiner Bass-Partie pflegten eine vibratoarme, sanft auf Linie angelegte Stimmführung. Auch Sibylla Rubens passte sich einer eher hellen, aber nicht auf virtuosen Glanz gerichteten Stimmfärbung an.

Die Vokalsolisten Sibylla Rubens, (dazu für das „Confiteor“: Lioba Brändle), Marie Henriette Reinhold, Florian Sievers und Georg Gädker (von links). Foto: Martin Bernklau

Mit der Chorfuge des zweiten Kyrie führt Bach den „Stile antico“ der Renaissance-Polyphonie ein, der ihm das Signum von Glaube und Dogma versinnbildlicht. Dieses eigene Klangbild setzte Benedikt Brändle durchgängig wiedererkennbar ein bis zur finalen Friedensbitte des „Dona nobis pacem“, das er als Wiederholung des „Gratias“ im Ausdruck ganz leicht variieren ließ. Dieses liegende Portato zeichnete viele der Chorstücke aus, auch der Soli.

Mit einer weiteren Klanggattung hebt das „Gloria“ an, in einer prächtigen, von Pauken und Trompeten getragenen eher homophonen Harmonik, die auch im energiegeladenen „Cum sancto spiritu“, dem „Et resurrexit“, einem (engelhaft wie trinitarisch) triolischen „Sanctus“ oder dem „Osanna“ Gestalt findet.

Die ersten Geigen mit dem exzellenten Konzertmeister und Solisten Gustavo Surgik (Bildmitte).
Foto: Martin Bernklau

Der Traditionalist Bach kennt natürlich die Konventionen, auch die katholischen: Das friedvolle „Et in terra pax“ ist leise und im Dreierrhythmus schwingend vom vorangehenden Lobpreis abgesetzt. Die von Marie-Henriette Reinhold ganz fein gesungene „Laudamus“-Arie begleitete Gustavo Surgik mit seinem Violinsolo zum niedersinken schön (man hätte ihn sich auch im „Benedictus“ gewünscht, aber da hatte die Flöte Vorrang, die Verena Guthy-Homaolka klangschön führte, manchmal, wie im Duett „DomineDeus“ von Sopran und Tenor, etwas drängend).

Mit dem tief mystischen „Qui tollis“ und dem energiegeladenen „Cum sancto spiritu“ mit seinen peitschenden Trompeten-Einwürfen vervollständigte der Chor das „Gloria“, von zwei Soli unterbrochen. Im weit gespannten „Qui sedes“ spielten Oboist Abdreas Vogel und die Altistin einander zu, für die majestätische, aber leicht genommene Bass-Arie von Georg Gädker war Fagottist Ulrich Hermann der Partner. Immer wieder war Philipp Römer mit dem warmen und geschmeidigen Hornton seines Corno da Caccia zu hören.

Die siebenstimmige strenge Fuge als Beginn des Credo (Symbolum nicenum) hatte Kraft und Kontur. Die Mitte der Messe aber bilden die beiden langsamen Sätze. „Et incarnatus“, auch ein Topos, eine Konvention als Geheimnis der Menschwerdung Jesu, sind neben der Kunst der Fuge die letzten von Bach geschriebenen Noten, schrittweise bildhaft herabsteigend und sich bei „ex Maria virgine“ magnificat-haft erhebend, schließlich im „homo factus“ auch dynamisch ganz eng verdichtet. Vor dem Schlusston ließ der Dirigent eine ehrfürchtig eindrückliche Generalpause einschieben.

Das „Cruzifixus“ ist das Zentrum der Messe und mit dem Kreuzestod Jesu auch das Zentrum von Bachs lutherischem Glauben, voll von Noten- und Zahlensymbolik bis in die Proportionen. Ganz ruhig liegend zeichnete der Chor die feinen Modulationen zwischen Dur und Moll sehr plastisch nach. Das Orchster malte die bildhaften Fuguren fein unterstützend.

Die gefürchtete „Et iterum“-Koloratur meisterte der Chorbass höchst respektabel. In der von Georg Gädiker mit Holzbläser-Begleitung schön erzählend genommenen Bass-Arie hat Bach den Satz „Et in unam sanctam catholicam“ mit einer geradezu schwärmerischen Koloratur bedacht. Das darf als Goodwill gegenüber dem katholischen Herrscher oder als tiefe Sehnsucht nach einer Einheit der Christen im Glauben gedeutet werden.

Die grandiose fünfstimmige „Confiteor“-Doppelfuge um Taufe und Sündenvergebung mit ihrem wie ein Leuchtturm aus den Wogen herausragenden gregorianischen Cantus firmus in Bass und Tenor hatte Benedikt Brändle solistisch besetzt und das Quartett der Vokalsolisten mit der Mezzostimme von Lioba Brändle ergänzt. Er wird seine Gründe gehabt haben. Es klang gut, aber man muss das nicht besser finden als das Gewohnte. Die Fuge geht nahtlos über ins Piano und einen der faszinierendsten Sätze Bachs überhaupt: In den 24 Takten des „Et expecto“ moduliert er geradezu abenteuerlich geheimnisvoll durch alle 24 Tonarten des Quintenzirkels, bevor im „Resurrexit“ die Auferstehung und das Kommen einer neuen Zeit triumphale Gestalt gewinnen.

Wenn es im Chor je einmal winzige Trübungen gab, dann waren die sofort wieder eingefangen. Genau wie die wenigen Stellen, wo die Gruppen auseinanderstreben wollten. Nicht zuletzt eine gute Stimmbildung ist nötig, um Kraft und Konzertration derart ungemindert bis zum dritten und vierten Teil aufrecht zu erhalten. Das „Sanctus“ als Wiederaufnahme einer frühen Komposition, ein Osanna in federnden Betonungen (alles übrigens, sogar die Solisten, mit wenig oder gar keinem Vibrato), erwähntes „Benedictus“ des schlank modellierenden Tenors Florian Sievers mit Flötenbegleitung, das innige Alt-Solo des „Agnus Dei“ und jene Friedensbitte „Dona nobis pacem“ führten die „große catholische Messe“ (Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel) an ihr Ende im alten Stil.

Begeisterungsstürme besonders für Benedikt Brändle – und bescheidene Dankbarkeit. Foto: Martin Bernklau

Schade, dass die Magie nicht in eine lange Stille verklingen durfte, bevor dieser frenetische Jubel besonders für Benedikt Brändle losbrach, der freilich verständlich und vollkommen verdient war.

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