Im Leeraum der Tübinger Stiftskirche erklangen über zwölf Nachtstunden hinweg Erik Saties rätselhaft magische „Vexations“ am Bösendorfer-Flügel
TÜBINGEN. So viel Zahlenmystik darf, ja muss schon sein: Zwölf Pianisten spielen ein rund zwölf Minuten lang wiederholtes Stück über zwölf Stunden – „Ein musikalischer Marathonlauf durch die Nacht“ im Leer_raum Stiftskirche“, wie Gastgeber Ingo Bredenbach das Ereignis nannte. Das hat etwas Sakrales, Heiliges, Zeitloses, überzeitlich Überwältigendes. Erik Satie (1866 bis 1925) hat seine „Vexations“ (Quälereien), dieses Rätselwerk in früher Atonalität und zwölf (plus eins) Zählzeiten (Takten) wohl im Jahr 1893 geschrieben mit der Anweisung *1), es 840 mal zu wiederholen.
So geschah es in der Nacht von Freitag, dem katholisch-gesetzlichen Feiertag Allerheiligen, auf Samstag. Auch Ideengeber Andreas Grau zählte zu den zwölf weiblichen und männlichen Satie-Aposteln *1), die den mittschiffs aufgestellten Bösendorfer Imperial abwechselnd eine Nacht lang am Klingen hielten. Eine Lichtinstallation von Joachim Fleischer, die Helmut Schneck von der Empore aus die komplette Nacht über subtil steuerte, sorgte dafür, dass dieser „ewige Klang“, dem „ewigen Licht“ des Totengebets und des katholischen Tabernakels ganz verwandt, eine innige Verbindung mit dem erhabenen gotischen Raum eingehen konnte.
Dem Beginn am Abend um 19 Uhr mögen vielleicht hundert Leute beigewohnt haben, die sich still wandelnd einfanden, mit den bereitgestellten Pappsitzen oder auf den Seitenschiff-Bänken niederließen, einige wohl tatsächlich auch, um in Decken oder Schlafsäcke gehüllt zu ruhen oder gar zu schlafen. Als die Nacht endete und der Morgen graute, mögen es noch – pardon – plusminus zwölf gewesen sein, die sich dieses unvergessliche musikalisch-mystische Erlebnis mit dem zweitlängsten Musikstück der Welt schenkten. Igor Levit hat es, ich glaube vor vier Jahren, mit allen 840 Repetitionen schon einmal vollständig aufgeführt, 16 Stunden lang.
In der sichtbar kriegsversehrten früheren Klosterkirche Sankt Buchardi in Halberstadt am Harz ist seit dem Jahr 2001 das längste Stück zu hören, das 659 Jahre lang dauern soll: ORGAN²/ASLSP (As Slow as Possible) von John Cage (1912 bis 1992), der zwar nicht wirklich komponieren konnte, aber dennoch einer der wichtigsten und einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts war. (Er soll übrigens in den Vierzigern die Uraufführung des Satie-Stücks besorgt haben.) Die Klangwechsel nach Jahresfristen auf maximal 8 gleichzeitig tönenden Pfeifen (und den Blasebalg) der eigens geschaffenen Orgel sind mittlerweile Publikumsereignisse und die Kirchenruine Pilgerstätte und Touristenattraktion zugleich. Zahllose Prominente sponserten das Langzeitereignis und sind teilweise auf Tafeln verewigt. Cages Partitur umfasst vier Seiten.
Eine einzige Seite, die über diese heilig musikalische Nacht hinweg unverrückt auf dem Notenständer des Flügels stand, umfasst Erik Saties Partitur seiner dreiteiligen „Vexations“, nur aus Vierteln und Achteln bestehend, einem einstimmigen Thema und zwei dreistimmigen Variationen. Bei den Intervallen scheint der „teuflische“ Tritonus, die verminderte Quint, einen gewissen Vorzug zu genießen, ein Grundton oder gar eine Tonart fehlt völlig. Dafür ist (doppelt) kontrapunktische Satztechnik unübersehbar. Ob Scherz – Satie war für seinen Humor bekannt – oder tiefes schöpferisches Bekenntnis des Komponisten (er hat eine Werkreihe von „Pages mystiques“ hinterlassen), darüber streiten sich die Gelehrten bis heute.
Dass sich die Interpreten, neben Andreas Grau, Ingo Bredenbach und Stiftskirchenorganist Jens Wollenschläger vor allem Studenten der Kirchenmusikhochschule, gewisse Freiheiten nahmen und die eher schlicht-klaren Töne ganz unterschiedlich deuteten, sogar das vorgeschriebene „trés lente“ (sehr langsam) zuweilen etwas zügiger auslegten, das dürfte ganz im Sinne Saties gewesen sein. Kurz nach sieben Uhr trat magische Stille ein. Zaghaft wollte dann jemand klatschen, verstummte damit aber sofort wieder. Es hätte auch nicht zu diesem ehrfurchtgebietenden, andächtigen, mystischen Moment einer vielleicht sogar heiligen Nacht gepasst. Nach langen Minuten flutete dann volles Licht in den Kirchenraum, und ein paar glückliche Menschen lagen sich sogar in den Armen.
*1) «Pour se jouer 840 fois de suite ce motif, il sera bon de se préparer au préalable, et dans le plus grand silence, par des immobilités sérieuses» („Um dieses Motiv achthundertvierzigmal zu spielen, wird es gut sein, sich darauf vorzubereiten, und zwar in größter Stille, mit ernster Regungslosigkeit“).
*2) Iulia Reitu, Rahel Fischer, Theresa Lang, Denis Pisarevskiy, Maris Bietags, Yannis Armbruster, Simon Forberg, Johannes Fiedler, Thomas Mandl, Christian Fischer, Jens Wollenschläger, Ingo Bredenbach, Andreas Grau.