Musik

2. WPR-Sinfoniekonzert – Hager ohne Historisieren

Leopold Hager dirigierte in der Reutlinger Stadthalle beim 2. Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmoniker Sinfonien von Schubert und Bruckner

REUTLINGEN. Das zweite Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie Reutlingen dirigierte am Montagabend Leopold Hager. Auf dem Programm standen die Sinfonie Nr. 5 von Franz Schubert und die Sinfonie Nr. 6 von Anton Bruckner. Der große Saal der Stadthalle wurde fast voll.

Leopold Hager dirigiert die Württembergischen Philharmoniker. Fotos: Susanne Eckstein

Nur zwei Sinfonien, kein Solokonzert, kein Stargast. Ein Sparprogramm? Auch die Ouvertüre im engeren Sinn hat gefehlt. Umso gespannter durfte man sein auf den Gastdirigenten: den Salzburger Leopold Hager. Vermutlich ist er mit 89 Jahren derzeit einer der ältesten erfolgreichen Aktiven seiner Zunft; mit Schubert und Bruckner hat er – bewusst? – österreichische Komponisten gewählt.

Er profitiert von einer umfangreichen Erfahrung als Dirigent; bekannt wurde er in den Siebzigerjahren dafür, dass er Mozarts frühe Bühnenwerke wiederentdeckte. Längst hat er die berühmten Dirigentenkollegen Böhm und Karajan überlebt, mit denen er in den Sechziger- und Siebzigerjahren den damals erfolgreichen glatten Klassik-Stil teilte, der später durch Harnoncourt, Hogwood, Norrington und andere mit ihrem „historischen“ Aufführungskonzept in Frage gestellt und aufgeraut wurde. Dieser Entwicklung hat sich Hager entzogen. „Die historisch informierte Aufführungspraxis soll nicht als Ideal angesehen werden“, äußerte er im Vorjahr in einem Fachmagazin.

Würde man also Orchestermusik im Stil der Siebziger zu hören bekommen? Der Beginn des Konzerts schien diese Vermutung zu bestätigen. Franz Schuberts fünfte Sinfonie, eine der Jugendsinfonien, orientiert am Vorbild Mozart und am Können eines Liebhaberorchesters, wurde zwar tadellos gespielt, kam aber in ihrer Individualität nicht ganz zur Geltung. Die Gestik Leopold Hagers schien aufkommende Wogen zu glätten, und wo sonst Konturen geschärft und Schuberts Kühnheiten betont werden, spielten er und das angemessen klein besetzte Orchester beiläufig drüber hinweg; Dafür wurde das Trio im Menuett – um einen Kontrast zu schaffen? – unzulässig gedehnt. Nur die dramatischen Episoden im Finalsatz hoben sich ab vom klassizistisch-gepflegten Gleichmaß.

Eine Überraschung erlebt man jedoch nach der Pause mit Anton Bruckners „Sechster“, seiner „kecksten“, wie dieser selbst sagte, und der einzigen Sinfonie, die er nicht überarbeitet hat. Ganz anders als zuvor zeigen Leopold Hager und das Orchester nun große Geste, Kante und Emotion. Wie eine Urgewalt bricht das metallische Blech unvermittelt in zarte Streicherlinien, lustvoll beteiligen sich die Musiker am Spiel der Kontraste und Gegenbewegungen. Leopold Hager lässt ihnen Freiraum zur Entfaltung und praktiziert ein agiles Dirigat mit lebhafter, ausdrucksvoller Gestik, die offenbar auf einem tiefen Verständnis der Partitur beruht.

Was Hagers Bruckner-Deutung auszeichnet, ist eine gewisse Melodienseligkeit, vielleicht eine österreichische Grundhaltung, die er aufs Orchester überträgt. Während andere heutige „Klassik“-Interpretationen quasi minimalistisch ein Detail ans andere reihen, zieht sich durch diese Musik ein sangliches Kontinuum, das ihr Schönheit verleiht und sie unmittelbar zugänglich macht.

Frühere Musiker lernten als erstes das Singen und gingen beim Komponieren und Spielen vom Singen aus, was heute nicht mehr selbstverständlich ist. Schubert und Bruckner beispielsweise waren als Kind beide Sängerknaben; Bruckners tief zerklüfteter Tonsprache steht das Kantable wunderbar zu Gesicht. Gerade der langsame zweite Satz profitiert von diesem Bewusstsein für Atem, Stimmführung und Melos, ohne dass die Strukturen überdeckt werden.

Das Scherzo hat Bruckner offensichtlich ohne Thema komponiert; hier werden nun Klänge und Strukturen als eigenständige Elemente in eine Jagd der Rhythmen geschickt; wild, doch klangschön, grundiert von Hörnerklang. Bruckner, der Fortschrittliche?

Eine volle Stunde dauert diese Sinfonie. Reichen die Reserven für die langen, vielfach wiederholten Steigerungsstrecken und die stets aufs Neue unvermittelt einbrechende monumentale Klanggewalt? Weite Distanzen sind zu durchmessen; eine göttliche Kraft scheint sich nicht nur in dieser Musik auszusprechen, sondern sie auch wundersam durch Zeit und Raum zu tragen. Am Ende sind alle erschöpft, aber glücklich; das Publikum jubelt und applaudiert sechs Minuten lang, Leopold Hager muss sich mehrfach zeigen – er scheint zufrieden.

Sechs Minuten Ovationen für Leopold Hager und die WPR. Im Bild auch
die beiden Konzertmeister Timo de Leo (links) und Fabian Wettstein.
Foto: Susanne Eckstein.
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