Musik

Motette – Ganz alt, ganz neu

In der Stiftskirchen-Mottette sang ein Männerquartett um Jan Jerlitschka mit Matthias Antons Saxophonbegleitung Alte Musik.

TÜBINGEN. Ganz auf den offenen Raum bezogen: Mit dem Auftritt des Gesangsquartetts „pange lingua“ um Jan Jerlitschka und ganz alter Musik, unterlegt mit den Altsaxophonklängen von Matthias Anton, dazu illuminiert von der wundervollen Lichtregie Joachim Fleischers hatten die „Leer-Raum“-Wochen der Tübinger Stiftskirche mit der Motette vom Samstagabend ein weiteres Highlight.

Oben auf dem Lettner begann Jan Jerlitschkas Gesangsquartett (mit Philipp Cieslewicz, Martin Höhler und Florian Hartmann) sein Motettenkonzert, gegenüber auf der Orgelempore setzte Saxophonist Matthias Anton seine melodiösen Kontrapunkte. Fotos: Martin Bernklau

Für sein Ensemble hat sich Jan Jerlitschka, als gefragter Countertenor, Altus und Cantus längst der feinen Schule des Reutlinger Knabenchors Capella Vocalis entwachsen, mit Philipp Cieslewicz (Altus), dem Tenor Martin Höhler und Florian Hartmann (Bass) zusammengefunden, um sich ganz alter, ganz früher Musik bis zurück zum Beginn der Mehrstimmigkeit in Paris zu widmen. Besonders reizvoll war die Kombination mit dem Trossinger Saxophon-Professor Matthias Anton, der seine Wurzeln natürlich im Jazz hat. Wunderbar auch die akustische Vermessung des Raums, die ein wenig an die Entstehung der Doppelchörigkeit im Markusdom Venedigs erinnerte.

„Pange lingua“ begann auf dem Lettner über dem Altar mit der Motette „Parce mihi, Domine“ des vermutlich um das Jahr 1500 im andalusischen Sevilla geborenen Renaissance-Komponisten Christóbal de Morales, der nach Jahren in Rom übers kastilische Toledo nach Malaga heimkehrte und irgendwo in Südspanien um 1553 auch starb. Dessen hochmelodisch homophone Musik umwob das Altsaxophon auf der gegenüberliegenden Orgelempore mit den feinen, ungemein geschmackvollen Melismen von Matthias Anton.

Namensgeber des Ensembles ist der wohl wichtigste Komponist der Frührenaissance mit seiner „Missa pange lingua“, aus der Kyrie und Gloria in gleicher Konstellation folgten: Josquin Desprez (1450 bis 1521), der auch geografisch eine Brücke bildete zwischen der Pariser Mehrstimmigkeit der Hochgotik und polyphon-imitatorischen Satzkunst der flämischen Niederländer. Das war allerhöchste, wenn auch nicht absolut perfekte Stimmkultur. Ab und zu gab es leicht zerfaserte Einsätze und ganz selten sogar minimale Trübungen der Intonation zwischen der kraftvollen Kopfstimme von Jan Jerlitschkas so charakteristisch getöntem Sopran, den drei Unterstimmen und dem betörenden Saxophon-Klang von gegenüber.

Für das „O salutaris Hostia“ (nach Thomas von Aquin) von Pierre de la Rue (1452 bis 1518) fanden sich die vier Sänger dann im freien Raum mittschiffs zusammen, während Matthias Anton für seine antiphon-artigen Ergänzungen irgendwo im Halbdunkel der Seitenschiffe oder auf einer Empore verborgen hielt – mit interessanten akustischen Effekten, versteht sich. Die „Mille regretz“ von Josquin folgten a cappella und mit wunderschönem Aufblühen.

Dann ging es ganz zurück an den Ursprung der Mehrstimmigkeit, zur Notre-Dame-Schule, die ganz parallel zur himmelweisenden, lichtflutenden Baukunst der Gotik in Paris entstand, damals mit Leonin zunächst zweistimmig noch in der Klosterkirche von Notre-Dame, Vorgängerin der Kathedrale, wo Perotin (1160 bis 1230) weitere Stimmen hinzufügte und in der Folge die genaue Rhythmisierung der gregorianischen Melodien in fixierter Neumen-Notenschrift nötig machte. Jan Jerlischkas Solostück „Beata viscera“, ein Marien-Hymnus, war noch unterlegt mit orgelpunktartigen Unterstimmen und mit diesen weichen Altsaxophon-Tönen, die auch ihrerseits eine Art Brücke bildeten, in die Moderne und den Jazz, allerdings ohne neuzeitlich dissonante Harmonik.

Saxophonsolist Matthias Anton im Zentrum des Kirchenraums und der vier Sänger des Ensembles „pange lingua“. Foto: Martin Bernklau

In dieser antiphonischen Besetzung folgte einer der vielleicht berühmtesten Marien-Hymnen, „Ave maris stella“ in der Frührenaissance-Fassung von Guillaume Dufay, der vor 1400 vermutlich aus Cambrai in der franko-flämischen Region stammte, die für die Musikgeschichte so bedeutsam wurde. Auch als Theoretiker bekannt, starb Dufay dort im Jahr 1474. Ganz herrlich erklang das in klarem Wechselgesang von Solo und Tutti, um in einer charakteristischen leeren Quint zu enden.

Cantus-Sopran Jan Jerlitschka solistisch. Foto; Martin Bernklau

Die wunderbar melodiöse Motette „Nesciens Mater Virgo virum“ ist schon rund anderthalb Jahrhunderte jünger und stammt von Ludwig Senfl (1490 bis 1543), der zwischen der eidgenössischen Schweiz, dem Münchner Hof von Kaiser Maximilian I. und Augsburg wirkte. Zum Abschluss fanden sich alle fünf Musiker noch einmal mit Cristóbal de Morales und einem „Parce mihi, Domine“ in der Mitte ein, bei dem Altsaxophonist Matthias Anton geradezu schwelgerisch solistisch, aber stilsicher geschmackvoll (und übrigens exakt notiert) brillieren durfte.

Viel Beifall dann für eine höchst eindrückliche und sehr originelle Motetten-Stunde.

In alle vier Himmelsrichtungen verneigte sich das Ensemble als Dank für den reichen Applaus des Motetten-Publikums. Fotos: Martin Bernklau
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