Das PODIUM Esslingen eröffnete sein Konzertwochenende „Widerstand, Musik & Demokratie“ im Kloster Bebenhausen
BEBENHAUSEN. Es ist ein sommerliches Auswärtsspiel. Dieses jährliche Konzertwochenende in der alten Zisterzienserabtei verdankt das junge Podium Esslingen seinem Stiftungsvorstand, der früheren Tübinger Oberbürgermeisterin Brigitte Russ-Scherer. Am Freitagabend eröffnete das vielfach ausgezeichnete Forum für experimentelle Klassik sein kleines Festival unter dem Titel „Widerstand, Musik & Demokratie“ mit einem Kammerkonzert im hälftig bestuhlten Sommerrefektorium.
Neben dem Rothko String Quartet um den künstlerischen Leiter Joosten Ellée traten die Harfenistin Teresa Emilia Raff, Isabelle Raphaelis (Flöte) und die phänomenal vielseitige Mezzosopranistin Isabel Pfefferkorn im wechselnd farbig beleuchteten Saal vor ein Publikum, das nur zu einem kleinen Teil aus der Region kam. Der Abend suchte zunächst Bezüge zum Jahr 1933 und widmete sich dann Werken von Frauen von der Romantik an bis zur jüngsten Komponistengeneration.
Das Adagietto aus Gustav Mahlers fünfter Sinfonie ist zwar ein betörend dahinschmelzendes Streicherstück par excellence, nicht nur als Leitmusik von Lucchino Viscontis „Tod in Venedig“. Aber es lässt sich natürlich auch für Soloharfe arrangieren, wie das Elisabeth Plank (Jahrgang 1960) vor ein paar Jahren getan hat – eine Frage des Geschmacks und der Neigung. Erstaunlich tief gesetzt, also mehr in der Fülle des Wohllauts als im engelhaften Glitzern, phrasierte Teresa Raff zunächst in eher kleinen Bögen, entwickelte dann aber mehr die Linien und steigerte sie in eine freiere, gefühlvoll ausdrucksstarke Agogik. Großer Beifall dafür.
Das Expressive prägt ja auch die Musik von Arnold Schönberg (1874 bis 1951), schon bevor er seine Klänge in die strenge Form der Zwölftontechnik goss und zum Patriarchen nicht nur der Zweiten, der atonalen Wiener Schule, sondern der Neuen Musik überhaupt wurde. Im Streichquartett Nr. 2 fis-Moll aus den Jahren 1907/08 beschäftigte ihn noch eine andere Herausforderung: Er wollte dem Beispiel Beethovens folgen und neben der menschlichen Stimme auch Text in die zentral gewordene kammermusikalische Gattung einbringen.
Schönberg, mitten in einer Ehe- und Seelenkrise, wählte für die beiden letzten Sätze einen Sopran und die Gedichte „Litanei“ und „Entrückung“ von Stefan George, der im Jahr 1933 starb. Diese düster-mystische Liebespoesie („schließe die wunde!“) ist zwar unpolitisch. Doch der Dichter und sein esoterischer, homoerotisch und national-mythisch geprägter Kreis gelten nicht nur linken Literaturwissenschaftlern als direkte ästhetische Vorläufer nationalsozialistischer Gesinnung. Andererseits beriefen sich viele der Hitler-Attentäter um Stauffenberg auf ihren Guru und sein „Neues Reich“, sein „heiliges deutschland“. Insofern wirkt der Bezug auf das Jahr 1933 als Beginn der Naziherrschaft etwas bemüht und schwierig. Als thematisches Band könnte gelten, dass Schönberg 1933 in die USA emigrieren musste, weil er Jude war – wie Gustav Mahler und wie Fanny Hensel.
Von der Streichquartettseite her war die Interpretation der beiden Vokalsätze insofern heikel, als die Überakustik im unterbesetzten Refektorium den Hörern differenzierte Wahrnehmung schwermachte. Das betraf natürlich auch die Textverständlichkeit. Aber darüber hinaus war die Stimme von Isabel Pfefferkorn und ihre grandiose Führung geradezu eine Offenbarung. Eher im Mezzo gefärbt, entwickelte sie doch bis in höchste Töne unglaubliche Kraft, Eleganz und Klarheit, Eruptionen des Ausdruck in einer Stimmkultur und Disziplin, die dankbar niedersinken lässt. Wirklich großartig und natürlich völlig zurecht umjubelt.
Klanglich viel leichter hatte es das Rothko-Streicherensemble aus Joosten Ellée und William Overcash (Violinen), Bratschist Marc Kopitzki und Jakob Nierenz (Violoncello) bei der Romanze aus Fanny Hensels Streichquartett Es- Dur von 1834. Die Mendelssohn-Schwester verfügt über genau die gleiche Klarheit, melodische Eleganz, satztechnische Perfektion und den eminenten Formsinn wie ihr genialer Bruder Felix – eine Romantik, die in der auch klanglich fein abgestimmten Rothko-Interpretation süßlichen Überschwang nie auch nur streifte.
Schon eher zur Gefühlsseligkeit neigte die 1893 von der großen Pianistin Cécile Chaminade wohl fürs Klavier geschriebene „Méditation“ aus den „Six Romances sans paroles“ – was sich Teresa Raff an ihrer Harfe denn auch völlig zurecht ausgiebig gestattete, ohne die Grenze zum Kitsch zu überschreiten. Als völliger Gegensatz folgte dann die „Nocturne“ von Lili Boulanger, der – wie ihre ältere Schwester Nadia -auch als Lehrerin besonders einflussreichen Wegbereiterin der Neuen Musik in Frankreich. Das für Klavier und Violine geschriebene Stück zeigt in all seiner hochromantischen Anlage den Übergang zu einer klar strukturierten Expressivität. Wunderbar der fast travershaft weiche Ton, mit dem Flötistin Isabelle Raphaelis das über transparenten Harfenklängen gestaltete und steigerte.
Nicht weniger eindrucksvoll gelangen dem Rothko Quartet danach die Auszüge aus dem 1931 komponierten Streichquartett der Amerikanerin Ruth Crawford Seeger (Stiefmutter von Pete Seeger übrigens). Hochbegabt, kompromisslos modern und exakt strukturiert, wie diese Musik zeigt, ist es ein Jammer, dass sich diese Frau nur für so kurze Zeiten der Komposition widmen konnte oder durfte. Was man hörte, begann mit einem fein gewobenen Klangteppich aus Clustern, dessen dissonante Reibungen sich immer weiter ausdifferenzierten, erweiterten und verdichteten. Große Musik.
Ein zeitgenössisches Werk wurde auch mit seiner stilistischen Grenzerweiterung zum Höhepunkt des Abends: „Are You Worried About the Rising Costs of Funerals“ hat die 1958 in Belize geborene britische Komponistin Errollyn Wallen im Neo-Dada-Stil ihre Collage überschrieben, die – mit dem Blues beginnend über Ragtime bis zur Ballade und zum raphaften Sprechgesang – eine wahre Wundertüte an Genres zu einem doch klassisch formvollendeten Virtuosenstück für eine Frauenstimme und vielfältig ausdifferenziertem Streichquartett vereint.
Unfassbar, welche Breite an Stimmfarben, an Kraft und Umfang, Virtuosität und Präzision Isabel Pfefferkorn da vorführen konnte. Mühelos wechselte sie vom kehlig-schwarzen Spiritual-Klang in opernhaft leuchtende Koloratur-Spitzen und zurück in die wilde Sprache des Hiphop. Als das Stück nach grandioser Steigerung im leisen Vergehen geendet hatte, brach im Publikum ein minutenlanger Jubel los. Manche erhoben sich. Als Dank gab es zwei zärtlich-leichte Songs aus „Evergreen“ (2022) von Caroline Shaw, die einen tröstlichen, zur Tonalität rückführenden Charakter hatten. Danach ließen sich alle Musiker mit Ovationen feiern.
Das Konzertwochenende „Widerstand, Musik & Demokratie“ wird am heutigen Samstag, selbe Zeit, selber Ort unter dem Titel „Atonal für Deutschland“ fortgesetzt. Am morgigen Sonntag, 4. August, um 11 Uhr heißt es als „musikalisch-diskursives Format“ in der Kutscherhalle „Mehr Wagen“. Das Abschlusskonzert unter dem Titel „Transformation!“ beginnt im Sommerrefektorium am Sonntag um 18 Uhr.