Musik

Orgelsommer – Im Fluss der Farben

Stiftskirchen-Organist Jens Wollenschläger widmet sich dem vielfach verkannten oder vergessenen Werk von Sigfrid Karg-Elert

TÜBINGEN. Manche Komponisten wurden vergessen, obwohl sie weder Frau noch Jude waren: Zu ihnen gehört Sigfrid Karg-Elert. Zu seiner Zeit erfolgreich, vor allem als Verfechter des Kunst-Harmoniums, 1933 verstorben, wurde er später weitgehend ignoriert; manche Musiklexika kennen ihn gar nicht. Erst ab den 1970er Jahren versuchten einzelne Musiker sowie die 1984 gegründete Karg-Elert-Gesellschaft seine Musik neu zu beleben.

Der illuminierte Prospekt der Tübinger Stiftskirchenorgel. Fotos: Susanne Eckstein

Der Tübinger Orgelsommer 2024 widmet sich nun ausdrücklich Sigfrid Karg-Elert, auch wenn aktuell kein Jubiläum zu feiern ist. Jeder auftretende Organist bringt unter anderem ein Werk von diesem „Mystiker und Feuergeist“ zur Aufführung; einen ersten Eindruck vermittelten im Auftaktabend am 28. Juli die „Bodensee-Pastelle“ op. 96. Der Titel klingt harmlos, die Musik aber hat’s aber in sich: In ihrer Sprunghaftigkeit und „modernen“ Machart und nicht zuletzt mit ihren detaillierten Spielanweisungen stellt sie hohe Anforderungen an Ausführende wie Zuhörer.

Den zweiten Abend am 3. August gestaltete nun der Intendant der Reihe selbst, Stiftsorganist Jens Wollenschläger. Dass er den Orgelprospekt in Lila-Pink-Tönen illuminieren ließ, kann man als Hinweis auf die beinahe kitschige Farbigkeit der Registrieranweisungen verstehen – ohne Assistenten sind die ständig wechselnden exotischen Klangfarben nicht zu realisieren.

Sigfrid Karg-Elert: Ein Blick in die Noten. Foto: Susanne Eckstein

Mit sicherer Hand und wachem Gehör gelang es Jens Wollenschläger, die koloristische Unruhe Karg-Elerts zu bändigen und den Zuhörern (soweit möglich) einen roten Faden aufzuzeigen. Zunächst in dreien der „zehn charakteristischen Tonstücke“ op. 86: dramatisch kontrastreich der „Prologus tragicus“, weich flötend die „Aria seriosa“ und mit differenzierter Artikulation (sowohl Karg-Elert wie Wollenschläger waren bzw. sind ausgebildete Pianisten) das etüdenhaft-virtuose „Studio“.

Als Gegenstück platzierte er danach die vierte der Bach’schen Triosonaten: einheitlich registriert, die Eigenständigkeit der meisterhaft komponierten Stimmverläufe betonend, sanft atmend im Mittelteil, obertonreich glitzernd im Finalsatz.

Mit einem ziemlich persönlichen Stück nahm der Organist die Karg-Elert-Werkfolge wieder auf: der „Symphonischen Improvisation über den englischen Choral ‚Näher, mein Gott zu dir’“. Diese erwies sich als Hommage an einen Musikerfreund, der beim Untergang der „Titanic“ 1912 ums Leben kam, wobei alle Register der Darstellung gezogen werden, von geradezu ozeanischen Akkorden bis zu entschwebenden Sphärenklängen am Ende.

Foto: Susanne Eckstein

Die geradezu mystische Atmosphäre wurde konzentriert weitergeführt mit dem „Basso ostinato“ aus dem op. 69 von Max Reger, Karg-Elerts Zeitgenossen. Warum diese dann ausgerechnet an dieser Stelle durch eine Ansprache des 1. Vorsitzenden des Fördervereins Stiftskirchenorgel e.V. Walter Blum unterbrochen wurde, verstanden wohl nur die Insider: Er würdigte die Verdienste das langjährigen Stiftskirchen-Titularorganisten Horst Allgaier und dankte ihm für sein vielfältiges Wirken.

Den Abschluss bildeten Karg-Elerts späte „Acht kurze Stücke“ op. 154, diesmal in vollem Umfang. Wollenschläger reihte sie als fortlaufenden Zyklus und machte den nunmehr dichteren Satz und die eigenwillige Klangsprache klar und schlüssig hörbar. Als Höhepunkt durfte man die pianistisch anspruchsvolle „Toccatina“ hören: transparent, souverän, deutlich artikuliert und in einer exquisiten Registrierung, gefolgt vom eher konventionellen Schlusschoral.

Die folgenden Orgelsommer-Abende werden weitere Werke von Sigfrid Karg-Elert vorstellen; am 14. August in einem speziellen Konzert, in dem Jens Wollenschläger das Kunstharmonium zum Klingen bringt.

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