Kino

„One Life“ – Der englische Schindler

Der Film mit Anthony Hopkins als Retter jüdischer Kinder läuft im Tübinger Museum und im Kamino in Reutlingen

TÜBINGEN/REUTLINGEN. Nick Winton ist so etwas wie der englische Oskar Schindler. Bei allen Parallelen aber gibt es nicht nur in der historischen Figur gewichtige Unterschiede zum deutschen Judenretter aus dem KZ im polnischen Plászow, auch James Hawes‘ Film „One Life“ ist ganz anders als „Schindlers Liste“, womit Steven Spielberg dem menschlichen SS-Mann ein Denkmal setzte. Winton war wohl ein durch und durch guter Mensch. Und Anthony Hopkins in seiner großen Altersrolle hat nun, nebenbei, nichts gemein mit dem Monster Hannibal Lecter aus dem „Schweigen der Lämmer“.

Nicholas Winton war ein junger Börsenmakler in der City of London und Sohn von Deutsch-Juden, die nach England ausgewandert waren, im Ersten Weltkrieg den Feindnamen Wertheim ablegten und ihre Kinder anglikanisch taufen ließen. Als die westlichen Demokratien 1938 Hitlers Erpressung nachgaben und im „Münchner Abkommen“ ihren tschechischen Schützlings-Staat so schändlich verrieten, entsann sich der junge Mann der Werte seiner Erziehung und pendelte fortan mehrfach von der Insel nach Prag, um dort mit seiner kleinen Gruppe vor allem jüdische Kinder an britische Gastfamilien zu vermitteln, bevor sie wenig später mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht (bei der nationalsozialistischen „Zerschlagung der Rest-Tschechei“) der Gefahr einer späteren Vernichtung anheimfallen konnten.

Solche Transporte bedrohter jüdischer Kinder nach Großbritannien hatte es nach den Pogromen der „Reichskristallnacht“ auch schon vorher gegeben, von Deutschland aus und wenig später, nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlers Nazi-Staat – noch wollte man die Juden nur weghaben, noch nicht vernichten und ausrotten. Mithilfe seiner Mutter, durch engagiertes Spendensammeln, beharrliche Behördengänge und unermüdliche Appelle an mögliche britische Gast-Eltern gelingt es diesem Nicholas Winton und seiner kleinen Gruppe von Mutigen, in vier Zügen 669 Kinder aus dem bedrohten Prag zu retten. Als mit Hitlers Einmarsch in Polen England zum Kriegsgegner wird, stoppen deutsche SS-Männer einen fünften Transport, in dem schon 250 weitere Kinder abfahrbereit im Prager Bahnhof gewartet hatten. Die meisten starben später in den Vernichtungslagern der Shoah. Der Nick Winton des Films würde das nie ganz verwinden können.

Die Familie der Tochter soll einziehen im schmucken Eigenheim mit Schwimmer-Pool, das Anthony Hopkins als rüstiger Rentner und seine Frau Grete (gespielt von Lena Olin, einem der drei Stars aus der „Unerträglichen Leichtigkeit des Seins“, die gleichfalls in anderem historischen Zusammenhang von Prag handelt) in wohlhabender Londoner Vorstadt bewohnen. Fast ein Messie, muss sich Nick Winton von so viel Liebgewonnenen trennen. Die Ledertasche mit dem Prager Album, das mit Listen, Fotos und Papieren die Erinnerung an seine geretteten und an seine ihren späteren Mördern nicht entkommenen Prager Judenkinder festhält, die wird Nick Winton nicht hergeben.

Eigentlich nehmen ja die Rückblenden auf die Prager Ereignisse den Hauptteil des Films ein, den James Hawes recht ruhig und konventionell inszeniert hat. Nur mit schnellen Schnitten, Nahaufnahmen und der Bewegungsunschärfe von Zac Nicholsons Kamera gerade bei Spannungssteigerungen setzt er etwas avanciertere filmische Techniken ein. Aber der Vergleich mit dem jungen Winton, den Johnny Flynn in der eigentlichen Hauptrolle ganz gut darstellt, zeigt: Anthony Hopkins ist ein ganz großer Schauspieler, der mit minimalen Mitteln eine unglaubliche Präsenz und Ausdruckskraft herzustellen weiß.

Die ganze Geschichte jedoch hat – um beim Vergleich zu bleiben – nicht diese bis ins Groteske gehende Fallhöhe von „Schindlers Liste“ zwischen Gut und Böse, auch nicht die kaum auszuhaltende Spannung zwischen diesem Höllenort und dem zynischen Saus und Braus in der Kommandantenvilla gleich nebenan. Das muss zwangsläufig auch die Umsetzung etwas weniger groß machen, selbst wenn die Konzentration auf Leitmotive und herausgezoomte Einzelschicksale ganz verwandt und dramaturgisch bestens inszeniert ist.

Gerade der Schluss ist vergleichbar: Dort ehren die Schindlerjuden mit symbolischen Steinen das Grab ihres Retters auf dem Franziskanerfriedhof am Jerusalemer Zionsberg. Hier, in „One Life“, ist es eine ziemlich billig-boulevardeske Fernsehshow der BBC aus den Achtzigerjahren, die den Retter und seine geretteten Kinder zusammenführt und dabei – es war halt wirklich so – schwer auf die Tränendrüsen drücken muss.

Aber gemeinsam ist beiden Filmen auch das Wort aus dem jüdischen Talmud, das bei „One Life“ sogar den Titel hergab: Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.

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