In der Reihe „musica nova“ gastierte das Sirius Quartet im Kunstmuseum Reutlingen | konkret vor vergleichsweise zahlreichem Publikum.
REUTLINGEN. Egal, was ein Streichquartett anstellt, das Ergebnis ist ästhetisch homogen: Die gleichartige Klangerzeugung von Violine, Viola und Cello bürgt dafür. Auf dieser Grundlage nutzen über die Jahrhunderte hinweg Komponisten das Streichquartett gern als Versuchslabor, ohne seinen Ruf als „Königsgattung der Kammermusik“ zu beschädigen.
Das Sirius Quartet mit Sitz in New York beteiligt sich ebenfalls am Experimentieren; allerdings weniger am feinsinnigen Erkunden neuer Ausdruckswelten, sondern auf einer anderen Ebene. Zum einen als Komponisten: die vier Musiker Fung Chern Hwei und Gregor Hübner (jeweils Violine), Sunjay Jayaram (Viola) und Jeremy Harman (Violoncello) komponieren ihre Stücke selbst; zum andern orientieren sie sich nicht an der Ästhetik der „klassischen“ zeitgenössischen Musik, sondern am Vorbild der Rockmusik, angereichert mit Elementen aus Jazz, Minimalismus und Weltmusik.
Der „edle Ton“ der Saiten ist ihnen offenbar egal, ihrer klingt durchweg rau und laut. Eine harte Motorik und ein solider Drive tragen das Ganze; der gemeinsame Puls stützt ein Begleitmuster, das in der Regel aus unregelmäßig akzentuierten, imitatorisch geschichteten rhythmischen Patterns besteht. Die Rollenverteilung erinnert an Rockbands: Das Cello fungiert als Bass, die Viola als Rhythmusgitarre, die zwei Violinen als Lead-Instrumente; der ruppige Zugriff auf Holz und Saiten liefert Perkussion.
Auch der Verlauf der einzelnen, etwa sechsminütigen Stücke folgt oft einem Grundschema: Ein Intro exponiert das Begleitmuster, die Violinen präsentieren die Melodie und steigern sich wie improvisierend, allein und im Duett zu ekstatischer Intensität; ihr folgen eine Rückführung, die Rückkehr zum Anfangsthema und ein präziser Schluss.
Dabei ist reichlich technische Virtuosität zu bewundern: Gerade Fung Chern Hwei beeindruckt mit übermenschlich rasenden Figurationen. Das Wort „bezaubern“ trifft den mechanischen Eindruck weniger, auch wenn das Programm mit „Incantations“ überschrieben ist. So lautet der Titel des eben erscheinenden Albums; die Musik beschwört die Erinnerung an verstorbene Freunde sowie an Verfolgte und Unterdrückte (etwa die afrikanischen Sklaven), wie die Musiker in ihrer Moderation erläutern. Die Titel sind fantasievoll: „Echo Chambers“, „Sahasranamam“, „Chant pour Île de Gorée“, „Between Impulses“, „Farewell Horatio“ und „Rage“ (string quartet No. 7).
Interessant wird es dann, wenn die vier ihr Rock-Schema verlassen: Wenn etwa die Violinen gläserne, tonlos rauschende Klangfarben zaubern, die Bratsche einen ausdrucksvollen Monolog anstimmt, im „Chant pour Île de Gorée“ Mikro-Intervalle einen halb gesummten Halteton umspielen, Viola und Cello eine dunkle Klage intonieren oder kurz vor Schluss das Cello mit orientalisch wirkenden Mikrointervallen und meditativer Ruhe in andere Welten entführt; in „Farewell Horatio“ klingt alte Musik in Choral-Akkorden an.
Am Ende des Programms steht ein Stück mit Jetzt-Bezug. Das dreisätzige „Rage“ bekennt Wut und Schmerz angesichts der Weltlage: Die Saiten knirschen und pfeifen, die Polyphonie der Rhythmen treibt ein gnadenloses Spiel und rahmt ein ukrainisches Volkslied; das Cello wird zur klagenden Stimme des Orients. – Begeisterter Applaus, eine Zugabe.