Die Sopranistin Sibylla Rubens sang, begleitet von Doriana Tchakarova, am Donnerstag im 50. Reutlinger Kammermusikzyklus
REUTLINGEN. Der Liederabend als Konzertformat wurde mehrfach totgesagt – er sei nicht mehr zeitgemäß, es käme kein Publikum mehr. Im kleinen Saal der Reutlinger Stadthalle sah das gestern nicht danach aus. Die Reihen waren gut besetzt, man freute sich, eine renommierte Oratoriensängerin aus der Region gemeinsam mit einer vorzüglichen Liedbegleiterin zu erleben: Sibylla Rubens zusammen mit Doriana Tchakarova.
Offenbar haben der künstlerische Leiter und die Pianistin ihre Kontakte zur Nachwuchsförderung durch ein „Vorkonzert Junge Talente“ genutzt: Eine halbe Stunde vor dem Auftritt von Sibylla Rubens stellten sich Ashkhen Varzhapetyan (Sopran) und Hannes Nedele (Bariton) mit einem gemischten Liedprogramm vor, begleitet von Dani Zhogovska am Flügel. Alle drei studieren an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, wo Tchakarova und Rieger unterrichten. Für die junge Sängerin war der Auftritt wohl einer der ersten, sie wirkte – trotz schöner, sicher geführter Stimme – etwas befangen, zumal neben dem deutlich fortgeschrittenen Hannes Nedele, der vokal und darstellerisch aus sich herausging und Anlass zu großen Hoffnungen gibt.
Einunddreißig (!) Nummern umfasste danach unter dem Motto „Wirf ab, Herz, was dich kränket“ das Programm von Sibylla Rubens, beginnend mit bekannten Liedern von Mozarts „Veilchen“ über Schumanns op. 107 bis zu Brahms‘ „Von ewiger Liebe“, weitergeführt im zweiten mit romantischen Raritäten von Johanna Kinkel, Luise Greger und Edvard Grieg.
Nur einen kleinen Einblick in die immensen Schätze der Liedkunst, dabei jedoch ein dicht gepacktes Pensum bot dieser Liederabend, zumal weder eine Moderation noch Klavierstücke für Auflockerung sorgten und ein Großteil der Lieder quasi im Verkaufsgebinde als Sechserpack vorgestellt wurde. Dass die Verleger pro Opus je 6 Stücke in den Handel brachten, muss nicht heißen, dass man sie in deren Reihung singt; man könnte sie auch einzeln und neu an einem inhaltlichen „roten Faden“ aufreihen.
Ein solcher war nicht zu erkennen, die Textinhalte drehten sich – typisch romantisch – abwechselnd um Sehnsucht, Liebesschmerz und Scherz. Die Qualität der Kompositionen war mit Blick auf die Textvertonung recht unterschiedlich, vor allem im zweiten Teil. Doriana Tchakarova hielt ihren stets sicheren, sensiblen und klangschönen Klavierpart als dezente Begleitung im Hintergrund; manche Details hätten mehr Kontur vertragen.
Nach der Pause durfte man Lieder von Johanna Kinkel (wieder-) entdecken, genauer: ihr op. 7; der Klavierpart der „Vorüberfahrt“ erinnert an Schuberts Wanderer. Danach die Komponistin Luise Greger, die sich noch im 20. Jahrhundert an die romantischen Vorbilder hielt. Doch unter der lächelnden Oberfläche ihres „Schlummerlieds“ lauern Abgründe, durch Sibylla Rubens sensibel angedeutet.
Die Sopranistin zeigte sich insgesamt als souveräne Liedgestalterin, der Mozarts scherzhaft-leichter Ton genauso zu Gebote steht wie der Tiefgang bei Grieg, dessen sechs Lieder op. 48 als gewichtiger Höhepunkt ans Programmende platziert waren. Auch wenn die Anstrengung der allzu umfangreichen Werkfolge sich schon in ihrer Stimme abzeichnete, brachte sie Griegs eigenständige Tonsprache in ihrer facettenreichen Mehrdeutigkeit noch zu differenziertem Ausdruck. Wenn „der Gram die Seele bricht“, bricht auch – andeutungsweise – die Stimme; wo der Traum zur Wirklichkeit wird, gewinnt sie emphatische, fast opernhafte Größe.
Dem dankbar applaudierenden Publikum gewährten die Künstler zwei Dreingaben, ganz zuletzt sinnigerweise Clara Schumanns „Beim Abschied“ mit der Schlusszeile „S’ist kein Abschied, kein Vergehn.“ Auch der Liederabend ist noch am Leben – doch er sollte pfleglich behandelt werden.