„Wintermusik“ am Wahlsonntag: Die blinde Sopranistin Gerlinde Sämann und der Harfenist Vincent Kibildis gestalten eine Matinee im Reutlinger Spitalhofsaal
REUTLINGEN. Die Stadt Reutlingen unterhält seit langem vier Musikreihen: Kammermusikzyklus, Orgelsommer, Musica Antiqua und musica nova. Ab dem Frühjahr 2022 (noch während „Corona“) erlitten sie Kürzungen aufgrund der beengten Finanzlage. So wurde die Zahl der Konzerte reduziert: im Kammermusikzyklus von neun auf acht, in der „Wintermusik“ der Musica Antiqua von drei auf zwei, wobei das Genre „Alte Musik“ unter der künstlerischen Leitung von Prof. Albrecht Holder sehr weit gefasst wird.
So greift er als beliebte Konstante immer wieder das Thema „Mozart“ auf, wobei Briefe rezitiert und Bearbeitungen aufgeführt werden, meist gespielt durch das „Trio Chateau“ mit Albrecht Holder am Fagott. Die erste diesjährige Wintermusik-Matinee am 9. Februar befasste sich mit „Mozart in Paris“.

Die zweite am Wahlsonntag, dem 23. Februar hingegen bot „Alte Musik“ im engeren Sinne: Lieder von Nacht und Tag unter dem Motto „From Darkness to Light“, vorgetragen durch die Sopranistin Gerlinde Sämann und den Harfenisten Vincent Kibildis. Dabei kann man den Leitgedanken nicht nur auf den alten Topos „durch Nacht zum Licht“ beziehen, sondern auch auf die Blindheit der Sängerin: Gerlinde Sämann besitzt einen hervorragenden Ruf als Solistin und ist Partnerin renommierter Ensembles und Dirigenten.
Ihr zur Seite steht der junge Harfenist Vincent Kibildis, der sich auf „alte Musik“ und Improvisation spezialisiert hat. Er führt die Sängerin behutsam aufs Podium, sie findet rasch Notenpult und Braille-Tablet; gemeinsam zelebrieren sie ein Lied-Kontinuum aus verschiedenen Epochen, großteils aus der Umbruchszeit um 1600 von Komponisten wie Dowland, Caccini, Senfl, Monteverdi und anderen. Inhaltlich folgt es dem Tageslauf: aus der Nacht über Morgen, Mittag und Abend zurück in die Nacht, gegliedert und erläutert durch poetische Ansagen.
Etwa durch den Satz „Im Dunkeln öffnen sich die verborgenen Augen“: Eigentlich ist das Programm für Aufführungen im abgedunkelten Raum gedacht, doch die einfühlsame Deutung bannt das Publikum auch im hellen Spitalhofsaal. In großer Ruhe spannt die Sängerin die weiten Bögen von Dowlands „In darkness let me dwell“, Caccinis „Sfogava con le stelle“ macht sie zu emotionaler Ausdruckskunst, Senfls „Ach Elslein“ wird im Wechsel mit dem ebenfalls singenden Harfenisten zur anrührenden Liebesklage. Auch die Zeitläufte kommen zur Sprache: Der Refrain von Senfls „Was wird es doch (des Wunders noch)“ mit der Frage „Was will daraus noch werden?“ meint offenbar das Hier und Jetzt.
Hören blinde Musiker/innen mehr als andere? Bei Gerlinde Sämann ist das vermutlich so. Ihr heller, reiner Sopran gestaltet Wort und Ton auf ungewöhnlich sensible und zugleich hochpräzise Weise in vielfältigen Nuancen. Gerade der durch andere Sänger/innen oft vernachlässigte Text – egal, ob englisch, italienisch, deutsch oder altfranzösisch – ist bei ihr in besten Händen: Sie artikuliert bewusst und deutlich bis in einzelne Laute hinein und prägt damit Stimmung, Bedeutung, Gefühl.
Nicht nur in den Nachtliedern: Am Mittag richtet sich der Blick nach innen, hin zu verschwiegenen Wünschen; am Abend auf eine Bildergalerie und „die Schönheit der Liebe, gebannt auf weiße Leinwand“, bevor der Tag mit dem eher heutigen, doch tief empfundenen „Danny Boy“ und einem reich ausgezierten Hymnus von Purcell erneut in die Nacht übergeht, die nun eine Bühne für das Spiel der Götter öffnet und das Glück des neuen Tages in einem Duett erahnen lässt.
Während des ganzen Programms lauscht das Publikum in konzentrierter Ruhe; nach dem Schluss mit Francesco Rasis „O che felice giorno“ (Welch glücklicher Tag) bricht es in Jubel aus und darf, gemeinsam mit den Künstlern, noch eine Dreingabe von Dowland auskosten.
Nachtrag: Gerlinde Sämann ist kürzlich mit dem Preis der Europäischen Kirchenmusik 2025 ausgezeichnet worden: https://www.schwaebisch-gmuend.de/pressedetails/preis-der-europaeischen-kirchenmusik-2025-fuer-gerlinde-saemann.html
