Musik

Gesprächskonzert – Bachs Lust am Provozieren

Stiftskirchenkantor Ingo Bredenbach führte in seine Motetten-Aufführungen von Bachs Wohltemperiertem Klavier II ein

TÜBINGEN. Gesprächskonzerte sind eine feine Sache: sich belehren und erfreuen zu lassen anstatt nur dabei zu sein und zu genießen. Zur Vorbereitung auf die in der Motette vom kommenden Samstag beginnenden Konzerte mit allen 24 – für jede Tonart je eins – Präludien und Fugen von Bachs zweitem Wohltemperiertem Klavier (WTK II) gab Ingo Bredenbach am Mittwochabend ein recht gut besuchtes Gesprächskonzert in der Tübinger Stiftskirche.

KMD Ingo Bredenbach am Graijnen Cembalo, im Vordergrund ein Faksimile des Londoner Autografen des Praktikers Bach – in einem Format, das passendes Umblättern erleichtert. Fotos: Martin Bernklau

Man muss das allerdings können, über die spieltechnische Virtuosität hinaus: sein Wissen zu vermitteln, die eigene Begeisterung bis in Details zu übertragen und das Publikum (sechs, sieben Reihen des Mittelschiffs füllten sich) dabei nicht zu überfordern. Und Bredenbach, erst vor ein paar Jahren mit einer Arbeit über den Unterricht Bachs „als Lernendem und Lehrendem“ zum Dr. phil. promoviert, kann es wie kaum einer. Er führte philologisch in den Rahmen des Lehrwerks ein und hatte sich ein Präludium und zwei Fugen für eine genaue Analyse ausgesucht, die er am historischen Cembalo-Nachbau von Titus Graijnen natürlich auch im Ganzen spielte.

Das „WTK I“ war im Jahr 1722 Teil von Johann Sebastian Bachs Bewerbung als Thomaskantor zu Leipzig gewesen. Es sollte die Lehrkompetenz des Nichtakademikers belegen. Georg Philipp Telemann war gewählt worden, hatte seine Bewerbung aber wohl nur zur Steigerung seines Marktwerts und seines Gehalts in Hamburg eingereicht. Christoph Graupner als Zweitplatzierter bekam keine Freigabe seines Darmstädter Dienstherrn. So nahm man eben Bach.

Um 1740 ließ er, der dort nach Bredenbachs Forschungen 138 Schüler gehabt hatte, einen zweiten Band mit fantasievoll einleitenden Vorspielen und lehrhaften Fugen in allen 24 Dur- und Molltonarten folgen, von dem es drei überlieferte Fassungen gibt: eine frühe aus Bachs ersten Leipziger Jahren, eine unvollständige „Londoner“ Handschrift, die als Faksimile betrachtet werden konnte, sowie eine komplettierte Abschrift seines Schülers Altnikol.

Die in Notenbeispielen nebeneinandergestellten Varianten offenbarten Bachs „Work in Progress“-Prinzip, wie Bredenbach das nannte, sein kreatives Recycling (im Großen das Parodie-Verfahren, im Kleinen einfache Transposition von Abschnitten) aber auch seine Praxisnähe (ein paar Fingersätze sind in Schülerabschriften überliefert) und sogar eine gewisse Lust an der Provokation – etwa mit experimentellen Modulationen, chromatischen Erweiterungen oder geradezu mutwillig angeschärften Dissonanzen.

Ein Präludium soll nach dem Theoretiker und Bach-Cousin Johann Gottfried Walther ein harmonisches Grundgerüst vorstellen. „Eine Kadenz etwa wie der Pachelbel-Kanon“, sagte Bredenbach, „das funktioniert immer!“, aber es solle auch fantasievoll ausgeschmückt sein. Ursprünglich umfasste das Eingangspräludium des WTK II in C-Dur 17 Takte. Bach erweiterte es aber auf die doppelte Länge, baute Verzögerungen, Scheinschlüsse wie den Neapolitaner, hier zweimal „phrygische“ Kadenzen, Transpositionen in die Subdominante, dazu rhythmische und harmonische Varianten ein.

Ingo Bredenbach bei seinen Erläuterungen zu Bachs Wohltemperierten Klavier II. Foto: Martin Bernklau

In der vierstimmigen Fuge c-Moll ist für Ingo Bredenbach nicht das sehr einfache Thema (Dux) wichtig, sondern seine Verarbeitung, etwa als Comes (Begleiter). Bach setzte sich in diesem „traumhaften Stück“ souverän über Fugenlehren hinweg, die etwa ein Johann Mattheson auch aus Bachs Beispielen destilliert hatte. Dass aber eine Fuge fließen müsse, also in der Regel Leittöne zu vermeiden und Kadenzen in Übergänge umzuwandeln hatte, galt ihm doch auch hier als wichtig. Auf Engführungen bis zur Stretta-Verdichtung, Auf Umkehrungen und auf „heftige harmonische Konstellationen“ wies er hin, aber auch auf das Zentrum in Takt 14 – der „Bachzahl“ als Quersumme ihrer Buchstaben BACH im Zahlenalphabet.

Das galt für die Fuge d-Moll alles auch, die mit ihren doppelten Kontrapunkten, verlängerten Varianten (Augmentationen) des Themas aus vier Triolen und zwölf Achteln und vielerlei kontrapunktischen Kunststücken so komplex ist, dass es dem Stiftskirchenkantor erschien, als wolle Bach den Spieler und die Zuhörer „ein bisschen verwirren“. Aber alles fügt sich nicht nur zu einer klaren Ordnung – es klingt auch so. „Eine Fuge ist eine Fuge ist eine Fuge“, wandelte Bredenbach den Rosen-Spruch von Gertrude Stein ab und musste sich selbst bei seinen mitreißenden Erläuterungen mit dem Satz bremsen: „Es gibt noch so Vieles – aber jetzt wird gespielt!“.

Das dankbare Publikum applaudierte lang.

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