In der Tübinger Stiftskirche waren Frieder Bernius und sein Stuttgarter Kammerchor mit Mess-Sätzen a cappella zu Gast
TÜBINGEN. Frieder Bernius gehört zum Besten, was die deutsche Chorkultur hervorgebracht hat. Mit seinem Kammerchor Stuttgart und einer Monteverdi-Messe war er 1974 erstmals in der Motette der Tübinger Stiftskirche zu Gast – und seither immer wieder regelmäßig. Wie schöpferisch und originell dieser Mann geblieben ist, zeigte schon das Programm, mit dem der Kammerchor am Samstagabend vor sehr gut besetzte Reihen in der Tübinger Stiftskirche trat: Er fügte Mess-Sätze von der Renaissance bis zur Gegenwart zu einer „Missa tota“, einer vollständigen Messe zusammen und ergänzte sie zum Ende der Weihnachtszeit in der Mitte mit drei passenden Chorliedern.

Auch in Sachen Stimmkultur hat Frieder Bernius Maßstäbe gesetzt, ist Vorbild für Viele geworden. Und mit seinem Kammerchor hat er sie ausgefeilt, bewahrt und überführt in eine Zeit, in der auf Vibrato weithin verzichtet wird – was Klarheit, Reinheit und den Ausdruck sehr viel schwieriger macht, weil weniger umhüllt und zugedeckt werden kann. Das ist so ähnlich wie beim Pedal in der Klaviermusik.
Es fehlt ja nicht an großen Messvertonungen von Palestrina über Bach, Beethoven, Bruckner bis Britten und weiter. Aber ausdrücklich nur für Singstimmen gedachte Vertonungen des „Ordinarium missae“ sind nicht gar so häufig. Aber es gibt Einzelsätze. Und die fügte Bernius zu eindrücklichen Querschnitt durch die Jahrhunderte zusammen.
Weil man Felix Mendelssohn Bartholdy (1810 bis 1847) auch seiner unvergleichlichen Sanglichkeit wegen wohl zu den Lieblingskomponisten von Frieder Bernius zählen kann, begann der Kammerchor mit dessen „Kyrie c-Moll“, dem doppelchörig gesetzten Frühwerk von 1823, in dem sich das geniale Kind mit seinem Vorbild Mozart auseinandersetzt und die traditionellen Formen vom gregorianischen Introitus bis zur Fuge durchspielt, aber etwa mit chromatisch-romantischer Harmonik auch in seine Gegenwart transponiert.
Auch solistische Einsätze kennzeichnen das kleine Werk, bei dem sofort zu merken war, dass sich der Dirigent und sein Chor sehr genau auf akustische Verhältnisse einzustellen wissen. Fragil und auch klangstark aufblühend verbinden sich die Kontraste des Werks mit einer am Text ausgerichteten Deklamation. Erbarmen. Bernius überträgt seine Konzentration auf das Wesentliche mit sparsamen, aber präzisen Gesten auf seine Sänger. Himmlisch die Schlusstöne: Noch einmal leicht anschwellend verklingen sie hauchzart und doch punktgenau.
Für das Gloria aus einer Messe „in der Flut vieler Wasser“ von Orazio Benevoli (1605 bis 1672) verkleinerte Bernius seinen kleinen Chor noch einmal – in vier getrennt aufgestellte Quartette. Denn dieser auch biografisch hochinteressante Mann – durchaus eine Wiederentdeckung wert – steht für einen besonders vielchörigen, vielstimmigen Stil des frühen Barock, der einen römischen Gegensatz zum venezianischen Mainstream mit seiner San-Marco-Doppelchörigkeit bildete. Großartige Musik, ganz subtil, luftig und durchsichtig dargeboten in ihrem thematisch imitatorischen Wechselstil, der vor allem am fugierten Schluss geschmackvolle Impulse bekam: in Ruhe bewegt.
Das „Credo“ steuerte Josef Gabriel Rheinberger (1839 bis 1901) bei, der gleichfalls wieder mehr Beachtung über sein „Abendlied“ hinaus verdiente, seiner geschmeidigen Stimmführung wegen ebenso wie für die besondere Farbe seiner Harmonik und sein eminentes Formbewusstsein – auch für traditionelle „Topoi“, in diesem Fall etwa das als besonderes Geheimnis der Menschwerdung Gottes mystisch zurückgenommene „Et incarnatus“, gekreuzt verminderte Akkorde beim „Crucifixus“, ein Stammeln oder Stocken bei „passus et sepultus“ oder das dogmatische Unisono des Glaubens an ein „vitam venturi saeculi“, das Leben einer kommenden Zeit. Mit wunderbar plastischer Kontur intonierte der Kammerchor solche Stellen.

Mit der ganzen Delikatesse seiner Stimmkultur brachte das Ensemble auch bei den drei Weihnachtsliedern, die Clytus Gottwald (1925 bis 2023) aus den bekannten Sololiedern von Peter Cornelius (1824 bis 1874) satztechnisch beispielhaft für Chor gesetzt hat, eine besondere Intensität zum Ausdruck. Zurück zum Messordinarium ging es mit einem „Sanctus“ des Briten Graham Lack (*1954), dessen Stil zwischen Cluster-Flächen, Rückungen, Fugati, hart dissonanten Anschärfungen und minimalistisch reinen Klängen klassischer Harmonik das Attribut „Mikrokompositionen“ bekommen hat. Dem schlank strahlenden Schluss-Dur ging ein Gemurmel des auf zwölf Stimmen reduzierten Ensembles voraus. Großartig.
Das „Adagio for Strings“ ist in seiner Suggestivität einer zarten, endlosen Melodie völlig zu Recht das weltweit populärste Werk des Amerikaners Samuel Barber. Im Jahr 1938 von Toscanini uraufgeführt, hat der Komponist sein Stück dreißig Jahre später zu einem „Agnus dei“ für achtstimmigen Chor bearbeitet, Vor allem in einer so feinsinnigen, zum Niedersinken schönen Interpretation setzt es noch ganz neue Facetten frei. Die äußerst schwierigen höchsten Töne im Sopran gelangen glockenrein und so wunderbar geschmackvoll wie die spiegelbildlich sehr tiefen des Alt. Im Ritardando und Decrescendo des Schlusses bündelte sich noch einmal die ganze Stimmkultur und musikalische Intensität, die Frieder Bernius mit seinem Kammerchor Stuttgart über Jahrzehnte entwickelt, erhalten und ausgebaut hat.

Trotz der Bitte um Stille brach dann bald ein stürmischer Applaus los, den die Sänger und ihr Dirigent dann doch mit einer gewissen Dankbarkeit über sich ergehen ließen.
