Kantor Ingo Bredenbach spielt in der Tübinger Stiftskirchen-Motette Bachs Wohltemperiertes Klavier
TÜBINGEN. Manchen gilt Johann Sebastian Bach als „fünfter Evangelist“. Dass er selbst in seinen weltlichen Werken sein Glaubensbekenntnis und christliche Botschaft versteckte, wissen nur die wenigsten. Stiftskirchenkantor Ingo Bredenbach spielte am Samstagabend in seiner Motette die erste Hälfte des Lehrwerks vom „Wohltemperirten Clavier“ Teil 1, das Bach schuf, als er 1722 im anhaltinischen Köthen in fürstlichen Diensten stand und sich auf die Stelle als Thomaskantor in Leipzig bewarb.
„Clavier“, das war der Oberbegriff für ein Tasteninstrument. Bredenbach lag richtig damit, statt der Orgel auf dem ein-manualigen Nachbau eines Cembalos zu spielen , das (wie Grünewalds „Isenheimer Altar“) im Colmarer Musée Unterlinden steht. „Wohltemperirt“ hieß die Stimmung, die aus den vormaligen Kirchentonarten das machte, was wir heute einen „Quintenzirkel“ über zwölf Töne in Dur und Moll nennen: einen geschlossenen Kreis, bei den die physikalisch reine, die “natürliche“ Stimmung ein wenig praktisch angepasst und behutsam verfälscht wird. Das ermöglicht zum Beispiel, dass ein Fis auch ein Ges sein kann („enharmonische Verwechslung“); oder die gängige Tonarten-Charakteristik („heroisches“ Es-Dur)
Die Präludien sind frei, manchmal schlicht, zuweilen höfisch tänzerisch, gelegentlich virtuos, manchmal sogar prächtig. Richtig spannend wird es in den Fugen. Bredenbach begann seinen ersten halben Zyklus von zwölf Paaren aus Präludium und Fuge mit jenem schlichten Präludium in C-Dur, über das Gounod sein etwas kitschiges „Ave Maria“ setzte. Viele andere Tonsetzer zitierten und verarbeiteten dieses Entrée aus gebrochenen Akkorden auch, in dem schon alle zwölf Töne der Leiter auftauchen. Jeder Klavierschüler kennt das Stück. Mancher Interpret setzt strikt motorische Metrik gegen jede Sentimentalität, der Stiftskirchenkantor nuancierte mit leichtem Zögern den Beginn jedes Takts entlang der neuen Akkorde.
Ausgerechnet bei der ähnlich bekannten Fuga II in c-Moll, an der sich Bachs musikalische Bauweise vielleicht am deutlichsten zeigen lässt, kippte kurz vorm Ende irgendein Holzteil in den Korpus des Instruments, und Ingo Bredenbach musste oder durfte neu ansetzen. Das markante Thema hat 14 Töne, die Bach-Zahl, als Visitenkarte. Aber da dreht sich eigentlich alles um die Zahl 3 als Symbol, die für den dreieinigen Gott des christlichen Glaubens, für die Trinität steht: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Drei Vorzeichen, drei Stimmen, drei Durchführungen (des Themas in jeder Stimme). Die Zahl als Symbol – wie die 12 für die Apostel und die gesamte Kirche, 10 für die Gebote und das Gesetz, 7 für die Schöpfung.
Das Verhältnis von thematisch gebundenen und freien Takten setzt Bach zu Proportionen um, die oft etwa den besonders harmonischen „Goldenen Schnitt“ (aus der mathematischen Fibonacci-Reihe) ergeben. Immer wieder bilden Zahlen von Tönen oder Takten oder Themeneinsätzen (als Quersumme ihrer Buchstaben nach dem Zahlenalphabet) auch besondere inhaltliche Hinweise. Bekannt ist vor allem die 14 für BACH. Ähnlich wichtig aber ist auch die Zahl 29, die sein Monogramm JSB mit seiner göttlichen Signatur SDG („Soli Deo Gloria“ – Gott allein die Ehre) verbindet. Zuweilen sind theologische Schlüsselbegriffe wie CRUX, das Kreuz des Erlösers, als komplexere Zahlen wie die 63 präsent (fallweise auch als Produkt von 9 und 7).
Über die harmonischen Bezüge, kontrapunktischen Kniffe, die Struktur und die Architektur dieses nach Hans von Bülow „Alten Testaments der Pianisten“ (das Neue waren ihm die Beethoven-Sonaten) sind Bücher geschrieben worden. Zahlenverhältnisse und Zahlensymbolik wurden auch spekulativ gedeutet. Vielleicht ist das Theologische daran eine Spielerei, ein Code, eine versteckte Glaubensbotschaft – vielleicht aber auch so etwas wie ein Zwiegespräch, das der Künstler Bach in seinem Schaffen allein mit seinem Gott und zu dessen Ehre führen wollte, selbst in weltlichen Werken wie dem „WTK I“ oder den gleichzeitig entstandenen „Brandenburgischen Konzerten“.
Im achten Doppelstück wird das „wohltemperirte“ Formprinzip besonders augenfällig: Da ist das Präludium in es-Moll, die Fuge hingegen in dis-Moll notiert, entsprechend mit sechs b und mit sechs Kreuzen als Vorzeichen. Den Deutungen des Kantors, Motetten-Leiters, Organisten und Chordirigenten merkte man stets das tief Verständnis der musikalischen Strukturen an. Besondere subjektive Akzente vermied er, vielleicht aus Respekt vor dem Dogmatisch-Lehrhaften des Werks. Das Präludium e-Moll, aus dem der russische Romantiker Alexander Siloti ein wunderbares Klavier-Encore gemacht hat, blieb interpretatorisch ganz bei seiner Urgestalt. Die folgende zweistimmige Fuge, die große Pianisten wie Glenn Gould oder Friedrich Gulda in geradezu fanatischer Motorik aufgefasst haben, spielte Bredenbach eher gemessen klar und gesetzt denn im wilden Temporausch.
Es passte, dass dieser Halbzyklus mit der Fuge f-Moll endete, die mit einem überaus schrägen und sperrigen Thema ansetzt, dann aber in harmonischer Pracht schließt. Das passte auch im Hinblick auf die letzte, die Fuge XXIV in h-Moll, die Ingo Bredenbach beim zweiten Teil des „Wohltemperirten Claviers I“ am 16. März in der Stiftskirchen-Motette vortragen wird: Arnold Schönberg sah in ihr das erste Werk der Musikgeschichte in Zwölftontechnik.
Die erbetene Stille hielt lang an, nachdem der zarte Cembaloton des festlichen Schlussakkords verklungen war. Aber dann zollte das nicht gar so große Publikum seinen Respekt für den Hauskantor und für seine Deutung des großen Lehrwerks mit langem Beifall.
Kleiner Nachtrag zum Instrument: Es ist der Nachbau eines Cembalos oder Clavecins von Johannes Ruckers aus dem Jahr 1624, das im Musée Unterlinden im elsässischen Colmar steht, einmanualig, mit relativ kleinem Tastenumfang. Gefertigt hat den Nachbau, der auf der Innenseite des Deckels für die Stiftskirchengemeinde statt einer zeitüblichen Genre-Malerei mit einem Faksimile des Merian-Kupferstichs von Tübingen versehen ist, im Jahr 2014 der niederländische Instrumentenbauer Titus Crijnen, der vorwiegend in Spanien arbeitet.
Kleiner Nachtrag zum Link „Klavier-Encore“: Robert Neumann, 2001 geboren, ist einer der besten Pianisten seiner Generation. Er stammt aus Stuttgart, ist aber in Tübingen geboren und hat hier 2022 bei der Wiedereröffnung des Schloss-Innenhofs als Spielstätte ein Konzert gegeben.