Bühne

LTT zu Nahost: Das Grauen und die Bilder

Das Landestheater Tübingen bringt eine Text-Performance und eine Podiums-Diskussion über Nahost auf die Matinee-Bühne seiner Werkstatt

TÜBINGEN. Das LTT reagierte schnell. Sechs Wochen nach den Hamas-Gräueln im Süden Israels brachte es am Sonntagvormittag ein Stückauf die Bühne seiner Werkstatt, das die aus Israel stammende Regisseurin Sapir Heller aus dem Text der dort lebenden Autorin Maya Arad Yasur inszeniert hat. Halb Lesung aus dem Off, halb Performance durch die Schauspielerin Franziska Beyer zwar nur, aber um so eindrücklicher: „Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten“.

Und es brachte darüber vor vollbesetzten Rängen unter Moderation von LTT-Chefdramaturg Adrian Herrmann eine Podiums- und Publikumsdiskussion zustande mit Zuschaltung des israelischen Historikers Moshe Zimmermannn aus Tel Aviv, der Regisseurin Sapir Heller sowie dem früheren Eberhardsgemeinde-Pfarrer und SWR-Kolumnisten Harry Waßmann, einem Kenner des Judentums, der seit Jahrzehnten engagiert ist in dem, was christlich-jüdischer Dialog genannt wird.

In Israel gibt es kaum Menschen, die nicht Verwandte oder Freunde als Angehörige von Ermordeten, Vergewaltigten, Verschleppten oder traumatisierten Überlebenden zu beklagen hätten oder die sich sorgen um die jungen Frauen und Männer, die jetzt als Soldaten beim israelischen Krieg gegen die Hamas in Gaza eingesetzt sind. Die Autorin und Dramaturgin Maya Arad Yasur ist selber Mutter und versucht in ihren autosuggestiven Appellen auch daran zu denken, dass es auch „Mütter hinter der Grenze“ gibt,

Ein Tisch und ein Stühl werden brutal von der Bühne fortgerissen. Die Schauspielerin durchleidet den Monolog bis zum Zittern, Keuchen und Stöhnen in der Haltung eines Yoga-Stuhls, jeden Halts in der Halbhocke beraubt. Ein erster Prolog führt vom Ohnmachtsgefühl beim Telefonat mit einer befreundeten Mutter während des bestialischen Massenmords zur letzten Aufgabe einer Mutter, jetzt im Schutzraum Schutzschild für die eigenen Kinder sein zum müssen. Prolog 2 stellt die verzweifelte Frage: Wo ist die Armee, auf deren Schutz alle so vertraut hatten? Keine Antwort. Irgendwann bleibt es stumm am anderen Ende der Verbindung.

Die Empfehlungen des Textes drücken zwar die völlige Ohnmacht und den Verlust aller Sicherheiten aus, sind aber gerade in ihrer spontanen Reihung eindringlich wie ein Gebet, eine Litanei. Den Fernseher auszuschalten und keins der unerträglichen Videos anzuschauen, ist der erste Rat. Sich trotzdem zu informieren der zweite, keine Männer, erst recht keine Kommentare alter Militärs anzuhören, der dritte. Mit der Freundin zu telefonieren, die viel direkter betroffen ist, ihr den einzig möglichen Trost in einem gemeinsamen Nie wieder! zuzusprechen, folgt als nächste Empfehlung.

Dann eine Aufforderung zum hemmungslosen Exzess: Süßkram, Schokolade und Kohlenhydrate in sich reinschaufeln, „ficken wie ein Tier“, sich zudröhnen mit allem, was an Alkohol und Drogen erreichbar ist, aber „nicht an Gott wenden“; palästinensische Freunde anrufen und sich nicht wundern, wenn sie hinter der Grenze völlig anders denken oder nicht zustimmen wollen, können, dürfen. Die eigene Mutter anrufen. Kleine menschliche Geschichten suchen wie die vom arabischen Fahrradhändler, der den Überlebenden in den Kibbuzim hundert Fahrräder und Helme schenkte. Den Zynismus aushalten, dass auch hinter der Grenze Mütter leben, die keinesfalls Bestien großziehen wollten. Mit Müttern von Geiseln sprechen.

Die eigenen Kinder durch Info-Sperre schützen will die Mutter, vor allem den immer wieder aufkommenden Rachedurst nicht weitergeben. Freiwillig kleine Friedensdienste leisten, aber keine Diskussionen führen über die Mütter auf der anderen Seite. Auf keinen Fall mit Humanisten aus Europa sprechen. Sich immer wieder erinnern, überall hinschreiben, dass es auch auf der anderen Seite Mütter gibt. Und als 17. und letzten Schritt die Selbstermutigung: „Viel Erfolg!“.

Sapir Heller erzählt dann in der Gesprächsrunde davon, dass Theaterarbeit ihre Therapie sei – und eben nicht nur für sich selbst. Der Uraufführung am LTT würden zehn andere deutsche Theater mit Inszenierungen des Monolog-Stücks folgen. Vom Moderator – “doch“ – gefragt, wie es ihr gehe, berichtete sie, angesichts der eigenen Ohnmacht die erste Woche nach dem Massaker „heulend im Bett“ verbracht zu haben, bis sie nach zehn Tagen den Text der Freundin bekam. Sie lebe, immerhin, sagt sie, die im Jahr 2008 nach Deutschland kam. Und nun sei die Sicherheit weg, die sie als Jüdin bislang immer gespürt habe: „Ich habe keine Angst zu sagen: Ich habe Angst“ – wie alle Juden weltweit vor dem neuen Hass. Es gebe keinen sicheren Platz mehr für sie, nirgends.

Aber nur Angst zu haben, sagt Sapir Heller, sei passiv. Man müsse, wie die Nachfahren der Täter und der Opfer des Holocaust auch jetzt wieder Verantwortung übernehmen und für ein „Nie wieder!“ sorgen.

Bis die Verbindung zu Moshe Zimmermann stand, konnte Harry Waßmann – statt wie erbeten eine Predigt zu skizzieren – von dem erzählen, was ihm jüdische Freunde berichtet hätten: dass in Stuttgart jüdische Kinder zwar wieder in Kindergärten und Schulen gehen würden, allerdings nur mit Bodyguards. Der Schutz von jüdischen Gemeinderäumen in Reutlingen oder Heilbronn sei hingegen nicht gewährleistet, die Rabbis hätten sogar Furcht, bespuckt zu werden.

Als der auch in Deutschland lehrende Moshe Zimmermann zugeschaltet war, nannte er den Begriff einer angemessenen Reaktion auf die Gräuel „problematisch“, aber ein großes Thema in der israelischen Gesellschaft. Der Wunsch nach Rache sei zwar natürlich, aber eben „auch bestial“. Mittendrin sei „Nüchternheit schwierig“. Jede Rerlativierung halte er für falsch, sie verbiete sich: „Hier gab es etwas Präzedenzloses“, sagte der Historiker, für das Geschehen vom 7. Oktober sei kein Verständnis möglich: „Es war etwas Ähnliches wie der Holocaust“.

Die Ereignisse hätten aber auch gezeigt: „Die zionistische Antwort auf den Holocaust hat versagt.“ Man habe zu viele Chancen versäumt, mit den Palästinensern – nicht mit der Hamas – zu verhandeln. Jetzt stehe man vor den Scherben des Friedensprozesses. „Kleine Schritte“ oder „Teil der deutschen Staatsräson“, das seien „nur Slogans“. Und Netanyahu, meinte Zimmermann, „hätte schon vor dem 7. Oktober gestoppt werden müssen“.

Ob man sich die Bilder der Hamas-Gräuel anschauen solle, wollte der Moderator wissen. Der Theologe Harry Waßmann empfahl – unter Verweis auf das Bilderverbot im Judentum wie im Islam und mit „Rücksicht auf die Seele“ – eher Abstinenz. Dem stimmte Sapir Heller vollständig zu. Es sei aber gut, dass es diese Bilder gebe – um der Leugnung dieser Verbrechen vorzubeugen, die sofort begonnen habe. Moshe Zimmermann gab zu bedenken, dass Bilder um der Wirkung willen eingesetzt würden und zunehmend auch fälschbar seien.

Zum Thema der Mütter meinte er sarkastisch: „Auch Hitler hatte eine Mutter.“ Im Publikum gab es danach Statements gegen den neu entflammten Judenhass, widersprüchliche Meinungen über „importierten Antisemitismus“ und die „Gefahr von rechts“, heftige Kritik an Israels Premier Netanyahu und Verwunderung über „das Schweigen der Linken“.

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