Bühne

Lindenhof – „Komm, süßer Tod!“

Ein Gastspiel des Stuttgarter Theaters La Lune widmet sich der Erinnerung an die nationalsozialistische Kindereuthanasie

MELCHINGEN. Am Samstagabend war das Stuttgarter Theater La Lune mit dem Stück „Komm, süßer Tod!“ auf der Studiobühne des Melchinger Lindenhof-Theaters zu Gast, das sich einer selbstgestellten Uraufgabe des albschwäbischen Regionaltheaters widmet: die Erinnerung wachzuhalten an eine Vergangenheit, die nicht bewältigbar ist.

Drei Jahre alt war Gerda Metzger aus dem Dorf Flacht bei Heimsheim gewesen, als sie laut gefälschtem Totenschein am 12. Juli 1943 im Stuttgarter Kinderkrankenhaus an Diphterie starb – eines von wohl um die 200.000 Mordopfern der sogenannten Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus. Viele weitere Kinder gingen in Verbindung von Luminolspritzen mit weitgehendem Nahrungsentzug plangemäß geradezu ein. Auf etwa 5200 schätzt man die Zahl der auf diese Weise im Rahmen der „Aktion T4“ (und in deren Fortsetzung bis Kriegsende) ermordeten Kinder.

Der von Adolf Hitler per unterschriebenem Befehl vom 1. September 1939 angeordneten Euthanasie fielen binnen eines Jahres – unter anderem mehr als 10.654 in der Gaskammer von Schloss Grafeneck nahe Gomadingen und dem Landgestüt Marbach – körperlich, seelisch und geistig behinderte Menschen als „lebensunwertes Leben“ und „nutzlose Esser“ zum Opfer, in den berüchtigten „Grauen Bussen“ an die Mordstätten wie Hadamar oder Pirna gekarrt.

Die Mutter habe ihr Kind „auf gar keinen Fall hergeben wollen“, sagt der Berliner Schauspieler Jan Uplegger, „es wurde ihr gewaltsam entrissen.“ Gemeinsam mit der La Lune-Gründerin Julianna Herzberg und dem Dramaturgen Dieter Nelle hat er aus dem Stoff ein Stück collagiert und erarbeitet.

In Wahrheit hatten ihr die Kinderärzte um Chefarzt Dr. Karl Lempp und seine Oberärztin Dr. Magdalena Schütte der Dreijährigen wohl eine Überdosis des Schlafmittels Luminol gespritzt, weil die Mutter sich zu Fuß auf den Weg von 24 Kilometern gemacht hatte, um ihr unter Zwang entführtes und eingewiesenes Kind zu suchen, dort der Klinik verwiesen worden war und durch das nächtliche Stuttgart irrte. Anderntags war das Mädchen tot.

Über viele Jahre hat sich die Stuttgarter Malerin Mechtild Schöllkopf-Horlacher mit dem Schicksal von während der Nazizeit ermordeten Kindern beschäftigt, auch mit Collagen-Bildern unter Verwendung originaler Fotos. Hier ist sie mit einem Bild des in Irsee ermordeten Jenischen-Jungen Ernst Lossa zu sehen. Archivfoto: Martin Bernklau

Seit vielen Jahren beschäftigt sich die Stuttgarter Malerin Mechtild Schöllkopf nicht nur künstlerisch mit den Schicksalen im Nationalsozialismus ermordeter Kinder: den Kindern von Irsee im Allgäu, den französischen Kindern von Isieux, den Kindern vom Bullenhuser Damm in Hamburg. Es sind daraus Bilder entstanden, aber auch Initiativen.

In Flacht hat eine Gruppe zum Tod von Gerda Metzger recherchiert und eine Ausstellung im Heimatmuseum organisiert, nachdem Gerdas Mutter Berta, alt und gebrochen, einem Masseur ihr Leid und die vermeintlich vergessene Geschichte anvertraut hatte. Gunter Demnig verlegte später einen Stolperstein für das Mädchen aus Flacht. In Stuttgart wurden die La Lune-Theatermacher um Julianna Herzberg auf die Geschichte aufmerksam und machten daraus das dokumentarische Theaterstück „Komm, süßer Tod!“, das seither in der weiteren Region um Stuttgart immer wieder gezeigt wird.

Sie haben die Ergebnisse der historischen Recherchen über diese samt und sonders ungesühnt gebliebenen Verbrechen an Kindern in eine aktuelle Rahmenhandlung gepackt: Ein junges Paar fragt sich, ob es angesichts drohender Klimakatastrophen überhaupt noch ein Kind mit einem entsetzlich hohen „CO2-Fußabdruck“ in die Welt setzen darf. Die zwischendurch in Panik kippende Angst, dass es sich nach pränataler Diagnostik auch noch als behindert erweisen könnte, kommt hinzu. Ein paar lyrische Passagen im Stil von Paul Celans „Todesfuge“ ergänzten das Tableau, das mit einer etwas religiös anmutenden Ermutigung endet: Man müsse jedes Leben, auch das behinderte, als „Magischen Funken“ willkommen heißen.

Die Zuschauer auf den gut besetzten Rängen waren tief beeindruckt und applaudierten lang.

Click to comment

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

To Top