Das israelische Ensemble vom Suzanne Dellal Centre in Tel Aviv gab im Tübinger LTT eine umjubelte Performance zeitgenössischer Tanzkunst
TÜBINGEN. In Israel schlossen die Theater nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober für Wochen. Der Tübinger Theaterkritiker Christian Gampert aber nutzte gerade in den Zeiten von Lähmung und Krieg seine Kontakte, um für das Suzanne Dellal Centres aus Tel Aviv, die erste Adresse für modernes Tanztheater dort, eine Gastspielreise nach Baden-Württemberg zu organisieren. Nur unter Polizeischutz konnte die Performance von sieben Choreografien mit neun Tänzerinnen und Tänzern am Donnerstag im Tübinger LTT stattfinden. Aber der Abend mit dem Titel „1/2/3// Solo/Duo/Trio“ wurde zu einem umjubelten Triumph fürs Theater, den Tanz, die Kultur – und das Leben.
Auf den Weg nach Deutschland gebracht hat das Projekt – auch als Zeichen der Solidarität mit dem nach seinem Gegenschlag in Gaza von einer weltweiten Welle des Judenhasses verstörten und mehr denn je bedrohten Staat Israel – Christian Gampert, der mit Abstand beste Theaterkritiker, über den das lokale „Schwäbische Tagblatt“ (neben seinem Chef Christoph Müller) je verfügte. Gampert stieß bei LTT-Intendant Thorsten Weckherlin und seiner Verwaltungsdirektorin Dorothee Must auf offene Ohren und Arme. Die Theater in Heidelberg, Mannheim, Freiburg, Konstanz und auch Würzburg schlossen sich der Einladung an. Sehr spontan garantierte das Stuttgarter Kultusministerium in Gestalt von Staatssekretär Arne Braun die Finanzierung mit einem Zuschuss, das israelische Konsulat griff organisatorisch unter die Arme, und auch das Kulturamt der Stadt Tübingen wollte schließlich nicht abseits stehen.
Als erstes Solo der Riege von jungen israelischen Avantgarde-Choreografen und Tänzer zeigte Tamir Golan sein von japanischen Elementen angeregtes „Wabi Sabi“, eine Art Entpuppung, die Metamorphose eines kafkaesken Käfer-und Verwandlungs-Wesens zu einem zunächst spastisch zuckenden Geschöpf, das seinen Lebenskreis von der Geburt über den schwebenden Schmetterling bis zum Vergehen im Tod vollführt.
Ihre eigenen Erfahrungen und existenziellen Krisen als junge amerikanische Jüdin und New Yorker Tänzerin, die nach Israel auswandert und dort auch mit einem eigenen Kind „die Welt verändern will“, hat Ariel Friedman zu dem getanzten und von Musik unterlegten Monolog „Seven Minutes That Changed the World“ verdichtet.
Ein drohend insistierendes Motiv von vier Pfiffen unterlegt den Pas de deux „Oxytocin“, in dem Gil Elgrabli und Choreograf Tamir Golan eine von Gewalt und Zärtlichkeit, in Anziehen und Abstoßen toxische Paarbeziehung in Tanz umsetzen. Immer wieder taucht die Todes-Geste des Halsabschneidens als Leitmotiv auf, wozu sich in immer sportiverem Taumel auch die Minimal music erweitert.
Ganz ruhig, stoisch, gewissermaßen als bewegte Skulpturen, die sich gegenseitig in Punkt- und Achsenspiegelungen abschreiten, gehen Maya Navot und Choreograf Ophir Kunesch ihren Pas de deux, ihr Duo „Arba“an, nachdem Avshalom Latucha sein Solo „Give it to Me“ getanzt hat, das mit barbarenhaften „Pa-Pa-Pa“- oder „Banabana“- Beschwörungen beginnt und sich nach einem ruhigen, fast stillstellenden Zwischenspiel zum wilden Rock’n’Roll von Tina Turners „Proud Mary“ steigert.
Das gleichfalls von Avshalom Latucha noch etwas improvisatorischer choreografierte Trio „The Three-Body-Problem“, gemeinsam mit mit Naomi Ben David und Tom Nissim getanzt zu einer Klang-Collage von Iyar Dalva mit Wassertropfen, Stadtverkehr und Taubengurren und in einer langsamen Leuchtkurve erhellt und wieder verdunkelt, endet mit einer Hilfsbitte zum Song „Helplessly Hoping“ von Crosby, Stills & Nash.
Nicht umsonst wählte die Tanztruppe aus Tel-Aviv die Performance „Look down“ als Finale, in dem Naya Binghi allein im Roten Kreis virtuose Flamenco-Elemente mit freiem Ausdruckstanz verbindet, sich das Gesicht mit dem heraufgepellten T-Shirt schwarz verhüllt und auf eine Tafel die rätselhaften Worte „Free Choice“ schreibt.
Der Jubel war groß und drei, vier Vorhänge Beifalls waren ausdauernd lang in der recht gut besetzten LTT-Arena, worauf sich der Intendant mit Rosen bedankte und das Ensemble seine Direktorin Naomi Perlov auf die Bühne in den noch einmal aufbrandenden Applaus zog. Ein von Christian Gampert moderiertes Gespräch mit ihr, einigen Choreografen und Tänzern gab noch eine Reihe von Deutungs-Hinweisen. Die Publikumsbeteiligung beschränkte sich aber auf eine einzige Frage: Was das Massaker von 7. Oktober und der darauf folgende Gaza-Krieg für die Arbeit bedeute. Den so verzweifelten wie optimistischen Versuch, trotz alledem als Antwort das Leben zu feiern, die Kunst, die Kultur und den Tanz, gab Naomi Perlov zur Antwort.