Literatur

Lesung – Thomas Manns Gnade

Der Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel stellte im Silchersaal seine Studie „Weltgewissen“ über die christliche Religiosität in Leben und Werk Thomas Manns vor

TÜBINGEN. Karl-Josef Kuschel ist Theologe. Katholischer Theologe. Tübinger Theologe. Der im lutherisch-protestantischen Lübeck getaufte Patriziersohn Thomas Mann (1875 bis 1955), Weltbürger und Nobelpreisträger, hatte weder im Werk noch im Leben mit dem Glauben viel zu tun, so scheint es. „Kajo“ Kuschel, längst zum Kultur-und Literaturwissenschaftler, zum ökumenischen Vertreter des interreligiösen „Weltethos“-Dialogs seines Mentors Hans Küng geworden, hat das genauer untersucht und unter dem Titel „Weltgewissen“ *1) ein Buch über Thomas Manns „religiösen Humanismus“ geschrieben, das er am Mittwochabend im Silchersaal des Museums rund 120 Literaturfreunden vorstellte.

Thomas Mann in den Vierziger-Jahren im kalifornischen Exil. Foto: ntv Repro: mab

Seit Jahrzehnten beschäftigt sich Kuschel mit dem Thema Thomas Mann. Zwei wichtige persönliche Begegnungen und Beziehungen haben diese Arbeit biografisch unterfüttert. Kuschel fand sich mit Frido Mann zusammen, dem Enkel des Dichters (und Vorbild für das sterbende Kind „Echo“ im großen Altersroman „Doktor Faustus“), der sich auch um das brasilianische Erbe seiner Urgroßmutter Julia da Silva-Mann kümmert. Eine enge Freundschaft verband ihn mit der vor zwei Jahren verstorbenen Inge Jens, die auch als Herausgeberin von Thomas Manns Tagebüchern literaturwissenschaftliche Weltgeltung fand. Ihr ist das Buch gewidmet.

Osiander-Gastgeber Heinrich Riethmüller, hier bewegungsunscharf, gibt die Bühne und den Biedermeier-Lesestuhl frei für Karl-Josef Kuschel. Fotos: Martin Bernklau

Seine Betrachtungen begann Karl-Josef Kuschel mit einer von Thomas Mann 1931 in einem kleinen Essay überlieferten Anekdote aus dem Lübecker „Buddenbrook-Haus“, über dessen Pforte bis heute der fromme lateinische Spruch „Dominus providebit“ (Der Herr wird sorgen) steht. Dabei sei der Gott des Dichtervaters und seiner auch im Roman „verfallenden“ Familie stets die Firma gewesen, das noble hanseatische Kaufmannshaus, merkte Kuschel etwas maliziös an. Auf dem Sterbebett habe sich der Vater zwar vom Pastor der Marienkirche begleiten lassen, dessen Litaneien aber mit einem energischen „Amen!“ zu beenden versucht – was ihm nicht gelang, sondern den frommen Mann Gottes nur noch anspornte.

Religiöses gibt es in Thomas Manns Werk tatsächlich in Fülle. Seinen hochpolitisch-philosophischen „Zauberberg“ von 1925 nannte er „ein religiöses Buch“. Die vier Josefs-Romane um den biblischen Helden kreisen um die Wurzeln abendländischer, christlich-jüdischer Kultur und vollenden in der Haltung des Weltliteraten seine Abkehr vom unpolitischen Ästhetizismus, der (in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“) noch eine reaktionäre, nationalistische und militaristische Komponente hatte, hin zu einem Unterstützer der Weimarer Demokratie – und zur frühen Gegnerschaft des aufkommenden Nationalsozialismus, die Thomas Mann gleich 1933 ins Exil, zu immer mehr literarischer Kontur im Erzähl-Werk und den Essays sowie schließlich zu den von der BBC übertragenen Radio-Reden („Deutsche Hörer!“) gegen Hitler und sein verbrecherisches Regime führten.

Dabei habe – beim aller Distanz des Dichters zur Amtskirche und zu jeglicher liturgisch-religiösen Lebenspraxis – ein christlicher Humanismus eine immer stärkere Rolle gespielt, auch als „sittliches Zuchtmittel“ gegen die Verderbnis der betont antichristlichen Nazi-Ideologie. Thomas Mann vertrat „die Würde und schlichte Schönheit des Guten“ schon 1935 auch gegen „das vermessene Geschwätz vom Verschwinden des Christentums“.

Über die vielen literarischen Fundstücke zu Glaube und Religion hinaus entdeckte Karl-Josef Kuschel auch biografische Details, die Thomas Manns Bezug zum Christentum durchaus neu und etwas anders beleuchten. Dazu gehört die Verbindung zur First Unitarian Church im kalifornischen Exil, die doch darüber hinaus ging, dass er Tochter Elisabeth in Princeton durch den befreundeten Unitaristen-Pastor trauen, deren Tochter Angelica wie auch den vergötterten Enkel Frido (Sohn des Musikers Michael Mann) unitarisch taufen („zu Christen geweiht“, nannte er den Akt) lassen und seinen Bruder Heinrich Mann in diesem Ritus begraben sehen wollte.

Die kenntnisreiche Lesung Karl-Josef Kuschels begann mit einer ironisch agnostischen Anekdote des glaubensfernen Thomas Mann und verdichtete sich immer mehr auf die lutherisch-protestantische Rechtfertigungslehre nach der paulinischen Theologie, deren zentraler Begriff die Gnade ist. Dabei verband Kuschel allerdings zwei völlig verschiedene Aspekte und Sphären. Luthers bange Frage „Wie schaffe ich mir einen gnädigen Gott?“ gilt – in mittelalterlicher Angst vor Höllenqualen und ewiger Verdammnis der Seele – dem Jenseits, dem ewigen Leben, der Erlösung durch Jesu Kreuzestod und dem Glauben daran.

Guter Besuch: Die Osiander-Lesungen im Silchersaal des Museums haben ihr Stammpublikum. Fotos: Martin Bernklau

Thomas Manns persönliche Gnade betrifft – trotz der Zerknirschung („contritio“) seines faustischen Helden Adrian Leverkühn über seinen Teufelspakt zugunsten künstlerischer Genialität – etwas komplett Anderes: Die Dankbarkeit des Dichters über sein eigenes – trotz Leiden und Schmerzen auch in Liebesdingen – großes, fast goetheanisch gelungenes Leben, das er in seiner letzten großen Roman-Erzählung vom „Erwählten“ als Papst-Legende um den Sünder Gregorius geradezu allegorisiert.

Theologische Gnade im jenseitigen Sinne war Thomas Mann nur literarisches Thema, kein persönliches Problem oder gar Bedürfnis. Oder allenfalls, im „Doktor Faustus“, allegorisches Material: Das deutsche Volk, sein deutsches Volk („Wo ich bin, ist Deutschland, ist deutsche Kultur“) sollte vor der Geschichte und der Welt unverdiente Gnade finden für seinen verbrecherischen Teufelspakt mit Hitler.

Keine Gnade hatte Walter Ulbricht gekannt, der mächtigste Mann der jungen DDR, den Thomas Mann als anerkannter Antifaschist in einem erst 1990 bekannt gewordenen Privatbrief von 1951 um Gnade und Milde für die in den wenig rechtsstaatlichen „Waldheim-Prozessen“ hart bestraften Naziverbrecher und -mitläufer gebeten hatte, ausdrücklich ohne sie verteidigen zu wollen. Ulbricht soll kurz geschwankt haben. Aber dann beantwortete er das Ersuchen nicht einmal.

Auch Unterhaltsames gehörte zur Fülle der Details, die Karls-Josef Kuschel aus entlegeneren Texten, den Tagebüchern oder anderen Quellen zu Thomas Mann recherchiert und zusammengetragen hat. Nebensächlich mochten manche sein, belanglos waren sie nicht.

Prof. Dr. Karl-Josef „Kajo“ Kuschel. Foto: Martin Bernklau

Als Gnade empfand der 75-jährige Thomas Mann seine Zürcher Begegnung im mondänen „Dolder“ mit dem (aus seinem früheren Ferienort Bad Tölz stammenden) 19 Jahre jungen und bildhübschen Hotelpagen Franz Westermeier, seiner letzten Liebe, homoerotisch und stürmisch schwärmerisch, aber natürlich zuchtvoll-platonisch – und unerwidert.

Als Gnade hatte er schon empfunden, dass er trotz schwerer Krebserkrankung seinen „Doktor Faustus“ noch vollenden, den „Erwählten“ veröffentlichen und sogar die humoristisch-ironischen „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ noch weiterführen konnte, dazu „Die Betrogene“ als letzte große Erzählung.

Als Gnade empfand er 1953 in Rom die Privataudienz beim deutschfreundlichen, später wegen seines Schweigens zum Massenmord am europäischen Judentum umstittenen Papst Pius XII., seinem „weißen Idol“. Eine angemessene Würde und Ehre, die auch seiner Eitelkeit schmeichelte, erschien ihm das viertelstündige Gespräch zwischen dem Stellvertreter Christi auf Erden, dem Führer einer Weltreligion, und ihm, dem Weltliteraten.

Als Gnade empfand er auch, dass er im Todesjahr noch seinen 80. Geburtstag feiern, seinen großen Schiller-Essay, die Arbeit über Michelangelo („Widerfahrnis der Gnade und der Liebe“) vollenden und – zwei Wochen vor seinem (gnädig leichten) Sterben am 12. August 1955 – am Strand des niederländischen Nordwijk an einem zweiten Drama (nach „Fiorenza“ von 1906) über Luthers Hochzeit planen, dafür George Bernhard Shaw studieren, das Geleitwort zu einer Erzähl-Anthologie der Weltliteratur herausgeben und Herman Melvilles „Billy Budd“ ebenso lesen konnte wie Alfred Einsteins Buch über Mozart.

Nachdem er noch Fragen beantwortet hatte, las Karl-Josef Kuschel abschließend den Epilog seines Buches en bloc und wurde dann mit großem Beifall zum Büchersignieren in den Vorraum verabschiedet.

*1) Karl Josef Kuschel, „Weltgewissen – Religiöser Humanismus in Leben und Werk von Thomas Mann“, Patmos, 446 Seiten, 48 Euro

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