Kunst

Kunsthalle – Visionen vom Wohnen

In der Tübinger Kunsthalle wurde die Ausstellung „Schöner Wohnen – Architekturvisionen von 1900 bis heute“ eröffnet.

TÜBINGEN. Entwürfe, Aufrisse, Grundrisse, Perspektiven und Modelle – all das ging früher dem Bau voraus. Dann kam der Computer. Und heute ist zusehends die KI zuständig. Was Architekten da seit der Wende zum 20. Jahrhundert zu Papier oder gar grenzüberschreitend auf die Leinwand gebracht und plastisch vorgeformt haben, fand oft eigenen künstlerischen Rang. Direktorin Nicole Fritz hat faszinierende Beispiele aus Museen und von Sammlern zusammengetragen. Oberbürgermeister Boris eröffnete am Samstagabend in einer überfüllten Tübinger Kunsthalle die Ausstellung „Schöner Wohnen – Architekturvisionen von 1900 bis heute“.

Über ein volles Haus konnte sich Direktorin Nicole Fritz (rechts) am Samstagabend zur Eröffnung der Architekturausstellung „Schöner Wohnen“ in der Tübinger Kunsthalle freuen . Fotos: Martin Bernklau

Nicht nur der Zeitgeist komme in diesen konkreten Visionen zu seinem Ausdruck, sagte die Direktorin, sondern oft auch der Traum, „mit Ernst Bloch gesprochen die Hoffnung auf eine bessere Welt“. Dass das nicht immer gelang, sondern sich zuweilen als fragwürdig entpuppte und in kalt technokratischen Konzepten von Wohnmaschinen „eher zu einer unwirtlichen Lebenswelt führte“, verleugnet die Ausstellung nicht. Und sie wendet, eine spektakuläre Idee, die damit über Tübingen hinaus Maßstäbe setzt, das Innen zum Außen: Am gegenüberliegenden Halb-Hochhaus aus den späten Sechzigern hat der Berliner Künstler Bernd Ribbeck ein Fassadenbild geschaffen, das ein Dogma der architektonischen Moderne von Adolf Loos auf den Kopf stellt und aus der funktionalen Struktur des Rundbogens ein Ornament macht.

Bernd Ribbecks konstruktivistisch-ornamentale Fassadenmalerei am Hochhaus gegenüber der Kunsthalle. #
Foto: Martin Bernklau

Nicole Fritz schöpft aus dem Eigenen. Bei ihrem Studium der Kunstgeschichte in Tübingen hatte sie bei Jürgen Paul eine Arbeit zur Architektur verfasst. Was sie gemeinsam mit ihrer Mitarbeiterin Zita Hartel aus dem Frankfurter Architekturmuseum (für das sein Leiter Peter Cachola Schmal ein Grußwort sprach), aber auch aus den Hochschulen in Darmstadt oder Stuttgart und von privater Seite zusammengetragen hat, umfasst Namen aus der Schnittmenge von Kunst und Baukunst, in diesen Grenzbereichen auch von Design und Stadtplanung, die nicht nur Kennern geläufig sind:

Vor Kisho Kurokawas zehn Quadratemeter großem Tiny House von 1970 im Garten der Kunsthalle (Bildmitte) bildeten sich bald lange Besucher-Schlangen. Foto: Martin Bernklau

Walter Gropius als Vertreter des Bauhauses etwa, das funktionale Lebenspraxis mit zeitlos schlichter Schönheit der Form zu verbinden suchte, die Expressionisten Hans Scharoun, Wenzel Hablik oder Bruno Taut, Erich Mendelssohn, mit dem Gips-Modell seines Einstein-Turmes vertreten, (Aino, weiblicher Part des Duos) Aalto aus Finnland, den verspielten Ornamentiker Hundertwasser, die Wiener „Coop Himmelb(l)au“, auch ein Oskar Schlemmer als Maler oder den Japaner Kisho Kurokawa, von dem eines seiner seriellen Wohnkapsel-Bauelemente von 1970 im Hof aufgestellt war und als frühes Tiny House besonderes Interesse der Besucher fand. Vielleicht fehlte, auch als Beispiel für das, was Nicole Fritz als „Schattenseiten und Unbehagen“ bezeichnete, der Name Le Corbusier mitsamt dem Begriff der „Wohnmaschine“; vielleicht war Amerikanisches etwas wenig vertreten.

Der OB eröffnet die Ausstellung. Vor dem Wenzel-Hablik-Gemälde „Meereszauber“ links Direktorin Nicole Fritz.
Foto: Martin Bernklau

Einen der magisch leeren Plätze und Räume von de Chirico (klar: schwerst und nur teuer zu bekommen) hätte man sich malerei-seits als weiteren Aspekt wünschen können, was aber nur die augenöffnende Weite des Ausstellungsthemas verdeutlicht. Vielleicht vertrat Thomas Ravens ihn als Gegenwartskünstler, wie Robbie Cornelissen oder Bernd Ribbeck, vor allem aber Simone Rueß ganz gegenwärtige soziale Perspektiven beisteuerten.

Imposant waren und sind diese 120 Konzepte und Perspektiven allemal, auch als angewandte Kunst, ganz nah am Leben, der wirklichen und konkreten Welt des Wohnens, des „behaust Seins“. Und dieser zeitlich so weit gespannte Bogen zeigte sein verblüffendes Spannungsfeld zwischen expressionistischem und postmodernem Ausdruckswillen, zwischen „Sehnsucht, Emotionen und Hoffnungen“ in den Worten der Direktorin, und den „Versuchen, das Leben zu ordnen“, also funktionaler Rationalität, oder auch den High-Tech-Utopien und pop-verspielten Konsum-Visionen der Sechzigerjahre, die – eigentlich bis heute – den Widerpart zu naturnah ökologischen und kulturkritischen Ansätzen bildeten.

Viele der Exponate sind eigenständige Kunstwerke, deren Wechselwirkung mit Malerei und Plastik im engeren Sinne nicht nur bei Friedensreich Hundertwasser unübersehbar ist. Man kann sich endlos verlieren in diesen Räumen unterschiedlichster Architektur-Themen. Ganz unten ist – mitten im Leben – tatsächlich sogar an die Kinder gedacht. Im Bällebad dürfen sich aber auch Erwachsene spielerisch bewegt neben Kunst und Architektur vergnügen. Großartig.

Im Bällebad. Foto: Martin Bernklau

Info: Die Aussstellung „Schöner Wohnen – Architekturvisionen von 1900 bis heute“ in der Tübinger Kunsthalle, Philosophenweg 76, ist bis zum 19. Oktober zu sehen. Öffnungszeiten täglich (außer Montag) 11 bis 18 Uhr, donnerstags eine Stunde länger.

(Titelbild: Kunsthallen-Direktorin Dr. Nicole Fritz, Peter Cachola Schmid vom Deutschen Architekturmuseum Frankfurt, dem Hauptleihgeber, OB Boris Palmer. Unten Pressebilder der Kunsthalle von Annette Cardinale und Ulrich Metz)

SCHÖNER WOHNEN
Architekturvisionen von 1900 bis heute
Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen
Foto: Kunsthalle Tübingen/Ulrich Metz
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