Im Kunstmuseum Reutlingen I konkret öffnet die Ausstellung „Das Quadrat muss den Raum beherrschen!“
REUTLINGEN. Kurator Holger Kube Ventura ist „richtig stolz“: Mit dieser Ausstellung habe man „zu den großen Museen aufgeschlossen“. Am morgigen Donnerstag um 19 Uhr wird eröffnet, wofür Aurélie Nemours (1910 bis 2005) nicht nur einen Schwerpunkt an Werken lieferte, sondern auch diesen kraftvollen Titel; „Das Quadrat muss den Raum beherrschen!“
Natürlich haben sich auch andere große Namen der Konkreten Kunst mit dem Quadrat beschäftigt und sind hier vertreten – samt und sonders aus dem unglaublichen Fundus bestückt, den Manfred Wandel und Gabriele Kübler über Jahrzehnte zusammengetragen und als Stiftung der Stadt und dem Kunstmuseum Reutlingen überlassen haben: Josef Albers, Max Bill, Jan J. Schoonhoven, John Nixon, Peter Roehr oder Anton Stankowski, um nur ein paar von 18 konkreten Künstlern zu nennen, die mit 73 Werken das dritte Geschoss der Wandel-Hallen füllen.
Der Raum beherrscht tatsächlich ein Hauptwerk von Aurélie Nemours mit dem Titel „Le long chemin (Der lange Weg)“, das eine Abfolge von 80 mal 80 Zentimeter großen acht mal acht, also 64 Quadraten in fünf Farben und vier Reihungen darstellt. Im Jahr 1989 geschaffen, war es schon einmal in liegender Abfolge ausgestellt. Jetzt dürfen es die Besucher um die Ecke herum abschreiten und sich von dem Rhythmus verzaubern lassen, der schöpferisches Geheimnis bleibt, vielleicht aber auch eine mathematisch Ordnung hat.
Für „L’innombrable (Das Unzählbare)“ hat die Künstlerin in jahrelanger Feinarbeit nicht weniger als 17.731 winzige schwarze Quadrate – natürlich schwebt als abwesendes Motto auch Kassimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ ´, das erste völlig gegenstandslose Werk der Kunstgeschichte von 1915 über der Ausstellung – auf eine Leinwand gemalt, was sowohl als Schöpfung wie auch für die Betrachter religiösen Exerzitien oder Meditationen gleichkommt (auch wenn die ungerade Zahl nicht aufgehen kann). Es sind unmerkliche Nuancierungen, mit denen Aurélie Nemours von der strengsten Form, dem absoluten Gleichmaß abweicht. Variationen in Schwarz auch nicht aufgehen kannim „Allerheiligsten der Ausstellung“, wo zur Eröffnung vier quadratische Kuchen kredenzt werden durften, mit den „9 Quatuors (Le Mur)“ von Aurélie Nemours.
Die vorgestellten Arbeiten weiten sich ins Reliefhafte mit Schattenwirkungen und Schattenspielen wie bei Jan J. Schoonhoven, zu den 25 Kupferblechen auf Holz des genialischen, jung gestorbenen Peter Roehr, als Bodenskulptur wie die „dix“-Betonelemente von Götz Arndt an einem Ende nach oben, als Würfel oder Türme wie bei Fritz Klingbeil oder Anton Stankowski in den Raum oder gar als Collagen nach Marcel Duchamps‘ „Readymades“ bei John Nixon (1949 bis 2020) zur Installation mit Bräter, Wasserwaage und Schöpflöffel auf Quadrat und Kreuzfläche. Der Australier hat sich aber auch mit Malewitschs ikonisch suprematistischen Quadrat auseinandergesetzt und sich (wie Yves Klein mit seinem gleichnamigen Blau) für seine Quadrate eine ganz persönliche Grundfarbe auserkoren, sein kraftvolles, fast signalhaftes „Orange Monochrome“.
Hochspannend auch die minimalistischen weißen Quadrate von Ad Dekkers, die einerseits an Luigi Fontanas zerschnittene Leinwand erinnern, andererseits das Quadrat noch einmal gedanklich fortführen: Denn die in acht Varianten eingefrästen Linien lassen sich ihrerseits wieder zu imaginären Quadraten fortführen und ergänzen.
Mit dem im Verhältnis des Goldenen Schnitts 1) komponierten „O.T.“ von 1960 und seinen malerischen Quadratvarianten steuerte nicht nur der universalbegabte Max Bill wichtige Werke bei. Auch die „Hommage to the Square“ und „Guarded Blue“ des großen Bauhaus-Künstlers Josef Albers, der erst in seinen späten Jahren zur Malerei und zum Quadrat fand, zählen zu den Highlights dieser unglaublich reichen Ausstellung, die bis zum 16. März 2025 in den Wandel-Hallen (Eberhardstraße 14) des Reutlinger Kunstmuseums zu sehen ist.
Anmerkung 1):
Der „Goldene Schnitt“ gehört seit der griechischen Antike zu den ältesten und wichtigsten Proportionen der Kunst und der Kunstgeschichte. Er beruht mathematisch auf der mittelalterlichen Fibonacci-Reihe (1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 etc.), bei der die sich immer die kleinere und die größere Zahl zur nächstgrößeren summieren. Dieses Verhältnis, das von den meisten Menschen unbewusst als besonders harmonisch empfunden wird und auch vielfach in der Natur vorkommt, nähert sich einer – wie das Kreiszeichen Pi – irrationalen Zahl und einem Faktor von ca. 0,61 auf die Gesamtstrecke von 1,0 bzw. dem Faktor 1:1,618 an. Großzügige Daumenpeilung für Betrachter: etwas knapper als ein Drittel zu zwei Dritteln. Er spielt übrigens auch in Leonardos „Vitruvianischem Mensch“ eine entscheidende Rolle für die idealen Proportionen des Körpers oder in der klassischen Architektur Andrea Palladios oder schon griechischer Tempel. Und er wird übrigens in Gitterlinien von Fotoapparaten verwendet, damit auch Laien harmonisch proportionierte Bilder machen können…