Musik

Klavierabend – Ein ganz Eigener

Der große russische Pianist Grigory Sokolov gibt im Festsaal der Tübinger Universität ein Konzert mit Werken von William Byrd, Chopin und Schumann

TÜBINGEN. Grigory Sokolov zählt zu den eigenwilligsten unter den großen Pianisten unserer Zeit. Seine Solokonzerte gleichen Weihestunden. So war das auch am Donnerstagabend wieder, als der 74-jährige Weltstar in einem ausverkauften Festsaal der Tübinger Universität seinen Klavierabend gab als Ersatz für das Ende Oktober krankheitshalber ausgefallene Konzert. Werke des englischen Renaissance-Komponisten William Byrd, Mazurken von Frédéric Chopin und die „Waldszenen“ Robert Schumanns hatte er ausgewählt.

Manche mögen Sokolovs sehr agogische Spielweise nicht, halten seine oft hoch und fast trampolinhaft von den Tasten aufspringenden Hände für affektiert, sein Gebaren für arrogant oder versnobt. Andere schwärmen für sein inniges Musizieren und verehren ihn auch für die Aura von Einsamkeit und völligem Versenken in sein Spiel. Auch das dämmrige Halbdunkel, in dem er aufzutreten pflegt, gehört dazu. Verwandt ist er nicht nur darin dem großen Glenn Gould, dessen extrem niedere Sitzposition oder sein Dirigieren oder Mitsummen manche als Marotten ablehnten 1).

Grigory Sokolov am Steinway im dämmrig beleuchteten, bis auf den letzten Platz ausverkauften Festsaal der Tübinger Universität. Foto: Martin Bernklau

Nicht nur solche je eigenen Äußerlichkeiten zeigen eine gewisse Verwandtschaft dieser beiden Pianisten. Für die erste Konzerthälfte wählte Sokolov Tastenwerke des Shakespeare-Zeitgenossen William Byrd, den man den „englischen Palestrina“ nannte. Glenn Gould hielt dessen Schüler Orlando Gibbons, auch noch der elisabethanischen Blüte und dem mit Monteverdi verbundenen Epochenbruch von der Renaissance zum Barock zuzurechnen, für den größten Komponisten der Musikgeschichte. Byrd hört man heutzutage und hierzulande allenfalls mit seinen Chorwerken. Die Tastenwerke waren für das Virginal geschrieben, ein kleines Cembalo, das keine Anschlagsvarianz kennt. Solche Musik mit dem modernen Flügel zu spielen, muss Puristen der historischen Praxis schon fast verboten vorkommen. Aber selbstverständlich ist es legitim – und kann aufschlussreich sein.

Es war aber nicht nur der Steinway, der für Grigory Sokolov auf der Bühne stand. Es waren auch die Rubati, Ritardandi und Accelerandi, also die Dehnungen und Straffungen des Tempos, die ausgeprägten dynamischen Kontraste zwischen zartem Piano und kraftstrotzendem Forte und seine ganz eigene Anschlagskultur. Man kann sie als rechtslastig bezeichnen oder als melodiebetont, was aber genau zu jenem Zeitenwechsel passt, der mit Monteverdis sogenannter Monodie zusammenfällt. Da wurde die aus einstimmigen gregorianischen Melismen und aus Kirchentonarten hochverfeinerte Vielstimmigkeit ergänzt durch eine Harmonik in (späterem) Dur oder Moll, die eine einzige Melodie mit Akkorden unterfütterte. Diese Musizierweise wurde nicht erfunden, sondern kam aus der Volks- und Tanzmusik in die höfische und kirchliche Kunstsphäre und fand ihre höchste Form in der Oper und im weltlichen Madrigal oder der kirchlichen Motette.

Wie Grigory Sokolov solche durchaus auch virtuos, auch tänzerisch gedachte Tastenmusik zwischen Spätrenaissance und Frühbarock nicht nur neu oder modern deutet, sondern gewissermaßen geradezu als Neuschöpfung, als romantische Variante anbietet, sehr sanglich, manchmal zärtlich verträumt, dann wieder bildhaft oder tänzerisch beschwingt, das ist keine Frage von richtig oder falsch, erst recht nicht von dogmatischem erlaubt oder verboten, das ist eine Frage des Geschmacks und anderer Perspektiven auf eine Musik, die den Hörgewohnheiten der Gegenwart doch viel fremder geworden ist, als sogar die meisten Musikfreunde und Kenner sie für sich selbst das wahrnehmen.

Von Frédéric Chopin hatte sich Sokolov die vier Mazurken opus 30 und die drei Mazurken opus 50 ausgesucht. Diese Tanzform im temperamentvollen Dreivierteltakt kommt mit ihren rhythmischen (auch harmonischen) Varianten und verlagerten Betonungen Sokolovs Spielweise und ganz eigener Deutung sehr entgegen. Er phrasierte in weiten Bögen, hob die modulierenden Töne hervor und zeigte wieder diese Neigung, der rechten Hand, den oberen Stimmen, der Melodie die Hauptaufmerksamkeit zu geben. Man merkte es am deutlichsten beispielsweise bei den schlichten Sextparallelen in der Mazurka G-Dur.

Ganz großartig der ausgeprägte „Suspense“, das spannungssteigernde Innehalten. Der bis zum absichtsvollen Verwischen (gewiss nicht zum Verschleiern mangelnder Fingerfertigkeit) ausgeprägte Einsatz des rechten Pedals wird nicht jedermanns Geschmack treffen. Das traf oft auch die Basslinien, und zwar so deutlich, dass es erscheinen konnte, als sei trotz allen Volumens die konturierende Anschlagsfinesse in Sokolovs linker Hand einfach nicht so ausgeprägt wie in seiner Rechten. Auch die rhythmische Konturierung in ausgeprägter Agogik mag manch ein Zuhörer an mancher Stelle für übertrieben gehalten haben.

Bei Robert Schumanns „Waldszenen“ opus 82 war das nicht anders. Sehr erhellend übrigens die Absicht, die beiden Jahrgänger von 1810 direkt gegenüberzustellen: dort eher die französiche Eleganz und Clarté, aus dem Tanz raffiniert und verfeinert, hier eine Poesie, die auch mal derber volkstümlich ausfallen kann, auch von schlichtem und naivem Ton geprägt ist und weniger Bilder als vielmehr Stimmungen beschreibt. Von den neun Szenen ragte eine heraus, typisch für Sokolov in ihrer geradezu überirdischen Klangbildung für die rechte Hand: der „Vogel als Prophet“, dessen Tirilieren, auf luftigen, sogar ins Dissonante gezogenen Pedalhall gebettet, stellenweise sogar an Messiaen denken ließ.

Das höchste Beispiel für Sokolovs ungemein fein ausgefeilte Schlüsse war der allerletzte, zum „Abschied“. Dem zärtlich filigranen Verschwinden in feinster Delikatesse folgten drei markante, aber mit genauem Geschmack und Klangsinn dosierte Schlusstöne.

Sokolovs Dank für den endlosen Applaus seiner Verehrer – er revanchierte sich mit fünf Zugaben. Foto: Martin Bernklau

Nach dem rauschenden Beifall begann eine lange Reihe von fünf Zugaben. Zum Niedersinken schön die federleichte, aber auch wieder rechtslastige Geläufigkeit einer Chopin-Etüde; und als echter Abschluss, der weihevollen Atmosphäre angemessen, das Choralvorspiel „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“, das Ferruccio Busoni nach Bachs Orgelvorlage fürs Klavier arrangiert hat. Mit diesen letzten Stücken wurde der todkranke Dinu Lipatti 1950 zur Legende. Sokolov zeigte seine Neigung zu intensivster Melodieführung, vor allem wieder mit seiner klanglich klar bevorzugten rechten Hand.

1). Glenn Gould zog sich übrigens in seine späten Jahren ganz von der Bühne ins Studio zurück, Grigory Sokolov veröffentlichte zwar auch noch Live-Aufnahmen, gibt aber nur noch Klavierabende, ganz allein an seinem Flügel.

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