Mit seinem Episodenfilm entwickelt „Poor Things“-Regisseur Giorgios Lanthimos die Filmsprache seines eigenen Genres weiter – „Kinds of Kindness“ läuft im Tübinger Kino Museum
TÜBINGEN. Die „Sweet Dreams“, wie sie die Eurythmics mit ihren gefälligen Klängen im Vorspann versprechen, erweisen sich als Reisen in ein Unterbewusstes, das um andere Bilder und Begriffe kreist als die eines Sigmund Freud. Es geht in diesem Film auch um Vater, Mutter, Kind, es geht auch um Sex, um Liebe, aber es ist der blanke Horror. Das unübersetzbare Wortspiel „Kinds of Kindness“ bedeutet ungefähr: Spielarten von Freundlichkeit oder auch von Fürsorge.
Kaum ein Jahr nach dem von Preisen überhäuften Siegeszug seiner in einer historischen Zeit spielenden feministischen Frankenstein-Variante „Poor Things“ um die Filmwelt setzt Regisseur Giorgios Lanthimos die Entwicklung und Entfaltung seines ganz eigenen Genres, seiner unverwechselbaren Filmsprache in der US-Gegenwart mit seiner Family fort, die deutsche Filmfans ein wenig an Rainer Werner Fassbinders fast sektenartig verschworene Münchner Truppe mit Hanna Schygulla, Barbara Sukowa oder dem kantigen Gottfried John erinnern könnte: Vor allem seine Stars Emma Stone und Jesse Plemons, aber auch Willem Dafoe und Margaret Qualley schickt er gemeinsam mit Co-Autor Efthymis Filippou auf seinen Trip in drei lose zusammenhängenden Episoden und führt sie in jeweils drei verwandten Rollen zu geradezu vibrierender schauspielerischer Intensität.
Im Gedenkjahr zum hundertsten Todestag muss natürlich der Name Franz Kafka fallen. Denn an dessen Welten einer wachsenden Bedrohlichkeit und Bedrohung durch eine rätselhaft unsichtbare Macht und Übermacht hinter der wirklichen Welt erinnern die drei Stories aus der gutbürgerlichen bis großbürgerlichen amerikanischen Gegenwart und ihres Kapitalismus ganz fraglos. Sie erinnern auch, nicht nur der Tiere wegen, an die Surrealisten Luis Buñuel und Salvador Dalí und ihren „Andalusischen Hund“, sie erinnern an Tarantino, an David Lynchs „Twin Peaks“ und die „Short Cuts“, das episodische Spätwerk von Robert Altman.
Das Triptychon beginnt mit dem Angestellten Robert, dessen ganzes kinderloses, aber sonst völlig konventionelles Familienleben bis ins kleinste Detail von seinem geliebten Chef Raymond (Willem Dafoe) bestimmt, beherrscht und durchgeplant ist. Jesse Plemons, dessen gewöhnungsbedürftiges Gesicht einem verknautschten Olli Kahn ähnelt, stellt diesen modernen Sklaven in seiner ganzen verstörten und verstörenden Gefügigkeit dar.
Robert soll als ultimativen Liebesbeweis für seinen Herrn und Meister einen Menschen mit einem inszenierten Unfall umbringen und kann das zunächst nicht. Am Ende entführt er einen bärtigen dicken Patienten aus der Intensivstation einer Klinik, schiebt ihn ins Parkhaus, stürzt den Besinnungslosen oder schon Toten vom Rollstuhl auf den Beton und überfährt ihn mehrfach.
Ein ungleiches Paar bestimmt den zweiten, vielleicht auch thematisch zentralen Teil. Verschollen als einzige Überlebende beim Unglück eines fünfköpfigen Forscherteams wird Liz mit dem Hubschrauber von einer paradiesischen Robinson-Insel gerettet und kehrt endlich zu ihrem Mann zurück, dem Streifenpolizisten Daniel, der seinen Kollegen und besten Freund samt Frau zwischendurch zum feinen Essen und zu Pornovideos vom früheren Gruppensex der beiden Paare eingeladen hatte. (Ansonsten frönt der Film übrigens der amerikanischen Neo-Prüderie.)
Aber die allmählich genesene Liz ist nicht mehr Liz. Daniel wird verrückt, schießt im Dienst einem harmlosen Autofahrer durch die erhobene Hand, verweigert das Essen und wird psychiatrisch behandelt. Von Liz verlangt er als Liebesbeweis, dass sie ihm ihren selbstamputierten Daumen grillt und mit Blumenkohl und serviert. Als sie sich auch noch die Leber aus dem Leib schneidet, klingelt es an der Tür, und Daniel schließt die echte Liz in seine Arme.
Die dritte Episode, die den Ring rundet, ist vielleicht ein bisschen komplex geraten, dafür glänzt Emma Stone furios und funkelnd von Dämonie als Emily, die neben ihrem Kind in der Obhut des geschiedenen Mannes im Auftrag des ominösen Sekten-Gurus Omi (Willem Dafoe) und seiner Aka (Hong Chau) eine Art Erlöser sucht, auch auf einer mondänen Jacht, auch mit ihrem reifenrauchenden Sports Car on the road. Mithilfe der Zwillinge Ruth und Rebecca (Margaret Qualley) – eine von ihnen stirbt beim Sprung in den trockengelegten Pool oder landet im Rollstuhl – will sie einen Menschen zum Leben erwecken, der sich am Ende als jener fette und bärtige Alte aus Episode eins erweist, den Jesse Pelmes als Robert so brutal totgefahren hat. Zum Abspann darf der sich beim Junk Food im Diner mit Ketchup vollkleckern.
„Kinds of Kindness“ ist auch ein virtuoses Spiel mit deutungsoffenen Leitmotiven: Frauen mit langen Beinen in luftig kurzen Sommerkleidern, den cool verglasten Chefetagen und gediegenen Villen im neuenglischen Stil, von Pools und Pars umsäumt, Old Money, von Jachten und schicken Autos als Insignien von Reichtum und Mobilität, dem Essen und Trinken, Messern und Revolvern, Fleisch und Blut, grässlich-bizarre Bilder teils. Leitmotivisch auch die Musik von Jerskin Fendrix aus Klavier und Gesang, der mal von griechischen Mönchen inspiriert, mal an der Schmerzgrenze scharf dissonant klingt.
Menschliche Beziehungen von Macht, Liebe, Sex und Abhängigkeit, auch das Spiel mit Identitäten treibt „Kinds of Kindness“ auf groteske, absurde, surreale Spitzen und filmt den enigmatischen Wahnsinn in sorgsam komponierten Bildern (Kamera: Robbie Ryan) und kalifornisch strahlendem Licht, aber auch in der kalten Düsternis von Parkhäusern und steril beleuchteten Klinikfluren ab. Ruhige, klare Schnitte, hin und wieder extreme Close ups, ein paar Traumsequenzen in Schwarzweiß.
Man darf diesen Dreistundenfilm nach „Poor Things“ als weiteren Geniestreich sehen oder als das verstörende Werk eines Verrückten, eines Psychopathen. So etwas Ähnliches hat man auch Quentin Tarantino nachgesagt, als er mit seinem eigenen Genre und seiner eigenen, ganz neuen Filmsprache die Leinwände eroberte. (FSK ab 16)