In der Tübinger Stiftskirche sang der Katholische Hochschulchor Schönbergs Psalm-Fragment, Cherubinis „Requiem“ und das „Schicksalslied“ von Johannes Brahms
TÜBINGEN. Eine Insel der Ruhe, Besinnung und Trauer mitten im Narrentreiben der tollen Tage: Der Katholische Hochschulchor sang am Sonntagabend in der gut besetzten Tübinger Stiftskirche mit dem letzten Werk von Arnold Schönberg, Cherubinis „Requiem“ und dem Schicksalslied von Johannes Brahms sein Kontrastprogramm. Mit dem jungen Chorleiter Jan Stoertzenbach stellt sich nach dem Debüt mit Händels „Messiah“ ein neuer und eigener Stil ein. Und auch das begleitende Orchester Sinfonia 02 um Konzertmeister Mathias Neundorf gehört noch nicht zum festen Tübinger Inventar. Aber sie sind beide eine große Bereicherung.
An Jan Stoertzenbach hört man seine chorischen Lehrmeister, die Stuttgarter Crème, durchaus heraus. Er knüpft an Dieter Kurz, Anne Kohler, Marcus Creed und Frieder Bernius an. Der Dirigierstil, in Gesten, Bewegungen und Schlagtechnik, ist eher sparsam als extrovertiert. Ziel und Ergebnis ist ein geschmeidig sanfter, intonatorisch sauberer und rhythmisch exakter Chorklang, der zwar auch Kraft und Wucht entfalten kann, bei der Deklamation aber beispielsweise eine zu scharfe Konturierung durch pointierte Konsonanten meidet. Das kann zuweilen Abstriche bei der Textverständlichkeit bedeuten. Das nimmt er in Kauf.
Die Werke passen vielleicht nicht zur Fasnet, aber sie passten zusammen. Arnold Schönbergs Fragment seines „Modernen Psalms“ opus 50 c („Wer bin ich,…“) ist das letzte Werk des Schöpfers der Zwölftontechnik. Bis zwei Wochen vor seinem Tod im Jahr 1951 hat er daran gearbeitet. Über das musikalische Geschehen hat er eine Sprecherstimme gesetzt, die Sebastian Walser so eindrücklich wie einfühlsam von der Kanzel herab erhob. In der Thematik steht der dieses fragende Gebet für die Hinwendung des Agnostikers zu seinen religiösen Wurzeln durch den Schock der nationalsozialistischen Judenverfolgung, der Bürde von Flucht und Exil, schließlich der Shoah.
Die Dodekaphonie mag sich (etwa für einen Nikolaus Harnoncourt) in ihrer willkürlichen, im Hören nicht nachvollziehbaren Dogmatik als eine Sackgasse der Musikgeschichte erwiesen haben. Ihre großen Vertreter aber, Berg, Webern und eben Schönberg, entfalteten in diesem engen Korsett auch Klangzauber und tiefen Ausdruck. Schönberg war auch Expressionist und zudem ein begnadeter Instrumentierer, was sich auch in der beeindruckenden Umsetzung durch den KHG-Chor und die Sinfonia 02 zeigte, im filigranen, vibratoarmen Streichersound, den Hörnern, dem Tuba-Einsatz und einem – trotz der Bewegung – eindringlich statuarischen Chorklang.
Das „Requiem“ in c-Moll, von Luigi Cherubini, 1817 in Paris uraufgeführt und in Frankreich Teil des sakralmusikalischen Kanons, ist ein großartiges Werk von höchster suggestiver Kraft, das hierzulande nicht nur deshalb mehr Beachtung verdiente, weil es sich etwa Cherubinis kollegialer Verehrer Beethoven zu seinem eigenen Begräbnis erbat, sondern auch aus schnöden praktischen Gründen für heutige, etwa studentische Ensembles: Es kommt ganz ohne (teure) Vokalsolisten aus.
Das war wunderbar, wie innig und elegant Chor und Orchester die melodischen Linien ausformten, auch auskosteten, wie mächtig und doch von dezentem Geschmack eingehegt sich die endzeitlichen Drohungen eines „Dies irae“ oder das erhabene Sanctus türmten, wie ungemein abschiednehmend dieses kleine absteigende Viertonmotiv in unendlicher Trauer und sanftestem Trost zum Schluss hin vertröpfelte. Schade, dass unsensibles Klatschen keinen Platz für die große Stille ließ, in der man nach dem Verklingen gern geruht hätte.
Auch das „Schicksalslied“ ist im Charakter eine Art Totenmesse, weltlich zwar und über die Klage aus dem „Hyperion“ Friedrich Hölderlins vertont, aber von Johannes Brahms 1871 in direkter Nachbarschaft und Nachfolge zu seinem „Deutschen Requiem“ in freien durchkomponierten Rhythmen als eindringlicher Klagegesang in die Welt gegeben, ohne dessen Spende an geistlich-religiösen Trost und Segen allerdings.
Ein paar Unschärfen auch in der Abstimmung mit dem Orchester mögen sich mit der Dauer dieses ungemein disziplinierten Singens in fein nuancierten Nuancierungen und großen eleganten Bögen eingeschlichen haben. Doch auch hier war die ganze Gestaltungskraft hörbar, mit der sich da Jan Stoertzenbachs ganz eigener Stil ausdrückte, bei einer Stimmkultur übrigens, die für ein studentisches Ensemble mit entsprechend hoher Fluktuation geradezu staunen macht.
Der jubelnde Applaus war natürlich völlig verdient, setzte aber auch wieder viel zu früh ein. Der KHG-Chor ist über die Universität hinaus schon seit Jahrzehnten eine feste Größe im Tübinger Musikleben. Man wird mehr von ihm hören. Neues. Und sehr gern, mit dankbarer Bewunderung.
In eigener Sache: Mich freut die überwältigende, fast durchweg positive Resonanz auf diesen Kulturblog. Bei Zuschriften an martinbernklau@web.de, die zur zeitnahen Veröffentlichung unter dem Beitrag in www.cul-tu-re.de gedacht sind, sollte mir dieser Wunsch eindeutig erkennbar sein. Danke.
Martin Bernklau