BRONNWEILER. Während andere ältere Chöre verstummt sind, singt der Kammerchor Reutlingen weiter. Hervorgegangen 1987 aus dem Chor der Pädagogischen Hochschule, hat er seinen Ehrgeiz und seine Entdeckerfreude beibehalten, obwohl die immer noch aktive Gründergeneration stimmlich teilweise an ihre Grenzen gerät. Für frischen Wind sorgt seit mittlerweile zehn Jahren Marcel Martínez Bonifacio, der die klugen Ideen des selbstbewussten Chors teilt und umsetzt.
Nachdem das Reutlinger Herbstkonzert (»Atem des Himmels«) im Vorjahr ausfallen musste, kam nun in der fast voll besetzten historischen Marienkirche Bronnweiler das Frühjahrsprojekt zur Ausführung: die »Historia di Jephte« von Giacomo Carissimi (1605 bis 1674), eines der frühesten Oratorien, basierend auf der biblischen Erzählung vom Heerführer Jephta, der aufgrund eines tragischen Deals mit Jahwe seine einzige Tochter opfern muss.

Vorangestellt und kurz erläutert werden musikhistorisch passende Werke: als Heranführung an die Musik von Renaissance und Frühbarock eine Toccata von Frescobaldi, von Marcel Martínez Bonifacio auf der großen Orgel der Kirche als festlich-freies Spiel der Gedanken gestaltet; danach ein zweichöriges Stabat Mater von Giovanni da Palestrina, in tiefer Zurückhaltung und schwingenden Rhythmen durch den zweigeteilten, 40-köpfigen Kammerchor im Chorraum vorgetragen.
Nach einer weiteren frühen Orgeltoccata, diesmal weich abgetönt, erklingt ein kurzes »Adoramus te« von Claudio Monteverdi als Reverenz an die Passionszeit und als Übergang zu »Jephte«, nunmehr vorn auf den Stufen und gut durchhörbar vorgetragen.
Die Schwierigkeit an Carissimis »Jephte« besteht nicht nur in der lateinischen Sprache, der Umsetzung der dramatischen Handlung und der Textausdeutung, sondern auch in der Besetzung mit gleich sechs Solisten. Diese stammen hier aus den Reihen des Chors – sie sind keine professionellen Sänger und stimmlich sehr verschieden, sodass verwöhnte Zuhörerohren (wie die Solisten selbst) in ungewohnter Weise gefordert sind.

Im Wechsel mit dem Chor schildern sie singend als Erzähler, als Jephte und dessen Tochter die Schlacht gegen die Ammoniter, die Jephte mit Hilfe Jahwes gewinnt, danach den Jubel der Sieger, und sie verkörpern das Wehklagen Jephtes über seinen verhängnisvollen Handel und das Leid der Tochter ob ihres bevorstehenden Todes.
Der Chorleiter stützt und belebt den Gesang durch sein stilsicheres wie freies Spiel auf der Truhenorgel. Überzeugend und klangschön gelingen die Frauenchöre, das Solistenquartett und der große sechsstimmige Schlusschor. Dieser verbindet den Schmerz von Vater und Tochter mit der Klage des damaligen und des heutigen Publikums in ergreifender Weise auf die vielfach wiederholten Worte »Weint, ihr Kinder Israels!«.
Danach wäre Jubel verfehlt; die Anwesenden danken den Ausführenden mit anerkennendem Beifall.
