Musik

Matthäuspassion – Mit doppeltem Chor

Mit dem Südwestdeutschen und dem Kammerchor Constant sowie dem Cölner Barockorchester und vielen Solisten führte Judith Mohr in der Tübinger Stiftskirche eine großartige Bach’sche Matthäuspassion auf

TÜBINGEN. Man glaubt es kaum: In der Stadt Tübingen gibt es derzeit über 40 Chöre. Ein paar davon erreichen Spitzenniveau. Zu ihnen gehört der Südwestdeutsche Kammerchor mit Sitz in Tübingen, seit 2019 geleitet von Judith Mohr, Professorin für Chorleitung an der Universität der Künste in Berlin.

Einstimmen beim Stimmen: Die herausragende Dirigentin Judith Mohr. Fotos: Martin Bernklau

Dass sich dieser Chor nun mit dem Kammerchor Constant aus Köln zusammengetan hat, liegt zum einen daran, dass dieser ebenfalls von Judith Mohr geleitet wird und ähnlich ambitionierte Ziele verfolgt, zum zweiten am aufzuführenden Meisterwerk: Johann Sebastian Bach hat sein Passionsoratorium nach dem Matthäus-Evangelium doppelchörig angelegt, es erfordert zwei getrennte vierstimmige Chöre und – wenn man Bachs Vorgaben umsetzt – ein doppeltes Orchester.

Zwei stimmstarke, hochkonzentrierte und perfekt einstudierte Kammerchöre, dazu ein faszinierendes Barockorchester.
Foto: Martin Bernklau

Es hatte sich offenbar herumgesprochen, dass eine originalgetreue, hochkarätige und opulente Aufführung anstand. Die Tübinger Stiftskirche war ausverkauft, eine Viertelstunde nach dem vorgesehenen Beginn suchten die letzten Eingelassenen noch ihre Plätze, weil die Platznummerierung geändert worden war. Die Mitwirkenden mussten warten, bis die Dirigentin ihre Hände zum Auftakt hob, während in den Bankreihen noch Unruhe herrschte.

Etwa hundert Choristen füllten die Stufen und nahmen die Zuhörer unter Judith Mohrs entspannt-konzentrierter Leitung mit hinein in Bachs reiche Musikalität; trotz der Masse erwies sich der Chor als präzis und beweglich. Ein Kinderchor auf dem Lettner erweiterte die Klangfarben; das im „historischen“ Stil aufspielende doppelte Instrumentalensemble des Cölner Barockorchesters entfaltete weichen Klang, links und rechts gerahmt von Traversflöten und Barockoboen, die mit ihrem verhangenen bzw. eng mensurierten Rohrblattklang leidvolles Mitfühlen und gläubige Unschuld verkörpern.

Auch die handlungstragenden Solisten waren bewusst postiert: der Evangelist zwischen Orchester und Chor, der Jesus-Darsteller ganz vorn. Joachim Streckfuß erwies sich rhetorisch gestaltender Erzähler mit hellem Timbre, der sonore Bass von Richard Logiewa Stojanovic als Jesus vermittelte einen Eindruck von Majestät.

In der Matthäuspassion wird die Handlung vorangetrieben im Wechsel zwischen den Figuren des Evangeliums und einer von Bach und seinem Textdichter mitbedachten zuhörenden Person. Diese soll, wenn sie den Inhalt ernst nehmen will, so tief wie möglich ins Passionsgeschehen und die religiöse Aussage eintauchen können. Gerade die zahlreichen Arien, die formal dem Vorbild der Opernarie folgen und musikalisch das barocke Repertoire der Leid-Figuren abbilden, stellen in sehr persönlicher Weise das innere Geschehen der fiktiven Zuhörer zwischen Anteilnahme, Schmerz und Buße dar: „Blute nur, du liebes Herz!“

Entsprechend sind die Solisten als einfühlsame Interpreten gefordert: Johanna Zimmer mit ihrem hellen, beweglichen Sopran, Marion Eckstein mit ihrem vollen und in allen Lagen wohlklingenden Alt, Philipp Nicklaus mit seiner teils eher expressiv, teils natürlich behandelten Tenorstimme und Daniel Weiler mit seinem wendigen Bassbariton. Alle vier überzeugten in jeglicher Hinsicht: stimmlich, gestalterisch und im Ausdruck, auch die Nebenfiguren aus den Reihen des Chors haben Lob verdient.

Besonders eindrucksvoll gelangen der doppelchörige Schlusschor „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ am Ende des ersten Teils, die Tenor-Arie „Geduld“ mit der virtuosen Gambenbegleitung und die tief verinnerlichte Sopran-Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“, die nur von einer Flöte und zwei Oboen begleitet wird – sorgfältig gestaltete Kunstwerke zwischen Konzert und Gebet.

Zum Ende hin hat der Chor zwischen wildem Volkszorn („Lass ihn kreuzigen!“) und ruhiger Andacht zu wechseln; er bewies Durchhaltevermögen und Schlagkraft, getragen von Präzision, Sensibilität und Sicherheit.

Allen Mitwirkenden wird zweieinhalb Stunden lang, nur mit einer kurzen Verschnaufpause anstelle der Predigt zu Bachs Zeit dazwischen, Höchstleistung abverlangt. Judith Mohr hat bei der Einstudierung ganze Arbeit geleistet: Ihre beiden Chöre zeigten sich auch am Ende noch frisch zupackend, gefühlvoll und sicher. Nach dem ergreifenden Schlusschor „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ war zunächst lange Stille in der vollbesetzten Stiftskirche, bevor Applaus einsetzte und sich zu lange anhaltenden, teils stehenden Ovationen steigerte.

(morgen mehr)

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