Kino

„Der Brutalist“ – Ein Epos des Jahrhunderts

Im Tübinger Museum ist der überlange Oscar-Favorit von Brady Corbet zu sehen

TÜBINGEN. Der Titel wurde wohl vor allem der Knalligkeit halber gewählt. Denn mit dem (unglücklichen) Begriff für jenen beton- und oft sogar bunkerhaften Architekturstil, für den ausgerechnet Le Corbusiers Marien-Wallfahrtskirche Ronchamps das poetische Muster vorgab, hat weder die Geschichte noch der Charakter der Hauptperson Lázló Tóth viel mehr gemein als die Tätigkeit eines Architekten ebendieser inzwischen eher schlecht renommierten Richtung der Moderne.

Ronchamp im Burgund, Le Corbusiers poetische Ikone des Brutalismus.

Trotzdem – und trotz seiner krassen Überlänge von 210 Minuten – wird „The Brutalist“ wohl reihenweise Oscars abräumen, und das völlig zurecht. Denn dieses Epos von Brady Corbet hat nicht nur höchste filmische und schauspielerische Klasse, sondern einen ganz eigenen Stil.

Die monumentale fiktive Filmbiografie hat vier Teile: Die Ouvertüre schildert die chaotische Auswanderung des jüdisch-ungarischen Bauhaus-Architekten, der in Buchenwald die Shoah überlebt hat und jetzt als „DP“, als Displaced Person, einen Neuanfang, eine neue Existenz, ein neues Leben, seinen amerikanischen Traum sucht. Die Freiheitsstatue und Ellis Island sieht er kopfüber.

Adrien Brody, der schon als „Pianist“ in Roman Polanskis Ghetto-Drama einen Oscar gewonnen hat, spielt diesen zerrütteten Lázló mit unglaublicher Intensität. Seine Ehefrau Erzebéth (Felicity Jones) und die geliebte Nichte Zsófia (Raffey Cassidy), die zwar zusammen aus Dachau befreit worden sind, aber unter den siegreichen Sowjets nicht aus Wien ausreisen dürfen, hat Lázló in Europa zurücklassen müssen.

Adrien Brody. Foto: Wikipedia

Der zweite Abschnitt zeigt László Tóths mühsame, entbehrungsreiche und oft entwürdigende Versuche, zunächst mithilfe seines assimilierten und konvertierten Cousins Attila in der Gründerväterstadt Philadelphia, Pennsylvania, dann mittels der glücklichen Entdeckung seines Talents und seiner Fähigkeiten durch den protestantisch-provinziellen Presse-Mogul Harrisson Lee Van Buren – ganz eigenartig, aber grandios konturiert von Guy Pearce – ein neues Leben aufzubauen und in dessen Auftrag ein monumentales Meisterwerk zu schaffen.

Regisseur Corbet (Mitte) und seine Hauptdarsteller.

Im dritten Teil kommt Erzebéth in Begleitung der Nichte endlich nach, ist allerdings als Folge von Unterernährung im KZ mit quälend schmerzhaftem Knochenschwund an den Rollstuhl gefesselt. Mit seinem Jähzorn, den Drogen und dem Alkohol, seiner gestörten Sexualität steht das von wiederkehrenden Alpträumen geplagte Architektur-Genie seinem eigenen Erfolg allerdings nur zu oft selbst im Weg. Der kurze Epilog feiert die späte Würdigung des mittlerweile altershalber hinfälligen Baumeisters auf der Architektur-Biennale von Venedig.

Ein architekturgeschichtliches Standardwerk hat Brady Corbet und seine Frau Mona Fastvold auch zu dem Drehbuch angeregt, das sich bei aller Chronologie einer allzu platten narrativen Linie schon durch seine vieldeutige, manchmal kryptisch-rätselhafte Tiefe und die multi-ethnische und multireligiöse Symbolkraft entzieht.

Der beste und treueste Freund des entwurzelten Juden ist ein entrechteter Schwarzer (Isaac de Bankolé); nackter Beton gegen strahlend weißen Carrara-Marmor, zu dessen italienischen Steinbrüchen Tóth mit seinem Mäzen pilgert; das Lichtkreuz in der Kapelle des multifunktionalen Gemeindezentrums; die wie die Schornsteine von Auschwitz geformten Säulen, die Zisternen Istanbuls, Lázlós nach seiner Buchenwalder Einzelzelle genormten Raumelemente. Das geht bis zur verstörenden Namensgebung: Lázló Toth hieß der geistesgestörte Attentäter, der 1972 im Petersdom zu Rom Michelangelos aus Carrara-Marmor geschlagene Pietà mit einem Hammer brutal attackierte.

Adrien Brody, Felicity Jones. Fotos: Verleih

Der Film ist handwerklich perfekt in Hitchcocks VistaVision-Format abgedreht, aber trotz der bisweilen irritierend übergangslosen Schnitte oder dem harten Caravaggio-Licht in oft weich patinierten Farben nicht unbedingt formalistisch oder gar experimentell inszeniert – von ein paar Specials abgesehen. Da werden bedrückend sehnsuchtsvolle Briefaussagen von Erzebéth kontrapunktisch mit quasidokumentarischen Werbesequenzen für das bedeutsame Philadelphia oder den Stahl von Pennsylvania gegengeschnitten. Der (auch sexuell) ratlos, rettungslos gestörte Lázló schaut Pornos aus der schwarzweißen Stummfilmzeit als Film im Film. Im Epilog unterlegt die monumentale, aber nie aufdringliche Filmmusik Schlaglichter auf die strahlend klare Pracht Venedigs und Szenen der Ehrung.

Zwar drückt der Regisseur nirgendwo aufs Tempo, setzt kaum Spannungsmomente ein, aber der insgesamt eher ruhig voranschreitende Film ist zu keiner Sekunde der (von einer Pause unterbrochenen) dreieinhalb Stunden langweilig oder gar ermüdend. Man sollte ihn gesehen haben – vielleicht schon bevor es Deutungen und Oscars regnet. (FSK ab 16)

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