In der Reutlinger Innoport-Halle feiern die Württembergischen Phiharmoniker, die Chöre der Capella vocalis und zwei Tänzer „Current Flow“, das erstaunliche Gesamtkunstwerk von Carmen Nuñez
REUTLINGEN. Dass so etwas noch geht! Da war viel Förderung von Sponsoren, aber auch eminente Begeisterung all der vielen beteiligten Menschen, vielleicht sogar ein Hauch Größenwahn vonnöten, um dieses Musiktheaterprojekt Wirklichkeit werden zu lassen. Am Samstagabend stieg als wahrhaftiges Event, als echtes Ereignis in der nüchternen Halle des Innoport-Gründerzentrums im Reutlinger Industriegebiet „In Laisen“ die Uraufführung von Carmen Nuñez‘ „Current Flow“, eines faszinierenden Gesamtkunstwerks, das vielleicht ein multimediales Schöpfungs-Oratorium genannt werden könnte.
Da war alles aufgeboten, was die Musikvermittler der Württembergischen Philharmoniker um Oliver Hauser, Knaben- und Mädchenchor der Capella vocalis um Managerin Monika Jerlitschka, den scheidenden Leiter Hermann Dukek und Stefan Weible, um den Dirigenten Thomas Herzog und die beiden Tanz-Performer Jana Rath und Elias Popp hervorzaubern konnten aus einem unerschöpflich scheinenden kreativen Hut, vor allem aber diese erstaunliche Musikerin und Bühnenkünstlerin aus der Schweiz: Carmen Nuñez, gerade mal 26 Jahre jung – Komponistin, Konzeptkünstlerin, Autorin, Regisseurin, Ausstatterin, vielleicht sogar Choreografin und vieles, vieles mehr.
Die Stuhlreihen, als Arena rund um eine Zentralbühne aufgebaut, füllten sich doch sehr gut, obwohl Fußball-Konkurrenz und angedrohte Unwetter manche Besucher abgehalten haben mögen. Mit der Philmo-Erlebniswelt samt Thai-Curry, Salat-Bowl und Drinks zuvor und einem Public viewing des deutsch-dänischen EM-Spiels danach war doch ein buntes, familiär generationen-übergreifendes Publikum erfolgreich angelockt worden. (Auch vom Wetter gab es übrigens weder Regen noch blitzendes Störfeuer.) Die Bühne an der Stirnseite musste viel Platz bieten für die vom erfahrenen Basler Theater-Dirigenten Thomas Herzog umsichtig geführten Musiker: ein doch recht großes Sinfonieorchester und die jungen Sängerinnen und Sänger der beiden Capella-vocalis-Chöre.
Es beginnt mit einem tiefen Wummern. Aber im Anfang war das Wort: Es erhebt sich als eine Frauenstimme aus dem Off, die in nüchtern wissenschaftlichem Ton von der Zelle erzählt, 37 Billionen mal zum Menschen versammelt, der „Grundlage allen Lebens und seiner Magie“, die sich mit ihrer Verbindung aus Elektrizität und Chemie eben auch zum spirituellen Prinzip erhebt und bis hinaus zu Emotion und Sprache, Austausch und Liebe führt.
Die Tuba gibt eine Art Orgelpunkt vor, woraus sich über mancherlei Querstände immer mehr Struktur aus Akkorden und Rhythmus entfaltet, eine sanfte Skalen-Koloratur des Fagotts herausschält und wozu ein ganz in reines Schwarz gekleidetes Paar zur zentralen Bühne schreitet. Dort streut es Sand aus, als Symbol des zellulären Urkorns in seiner unendlichen Vielzahl und Vielfalt.
In einem ersten Pas de deux von Ausdruckstanz bedecken sich die beiden – Mann und Frau, Adam und Eva – ihre Schwärze gegenseitig mit feuchtem, weißen Ton, hängen einen goldenen Vogelkäfig – als Schutzraum, später als durch Gliedmaßen ergänzten Torso und als ein mit weißen Bändern fixiertes Gefängnis – auf, während die Musik aus ihrem tönenden Urchaos heraus über scharfe Dissonanzen immer tonaler zu klingen beginnt und schließlich zu choralartigem Klang in Blech und Chor (auch a cappella, reine Stimmen, schwer zu singen) findet, stile antico gewissermaßen, alter, gebundener Stil erweitert aus Dur und Moll.
In sechs Stufen hat Carmen Nuñez ihre säkulare Schöpfungsgeschichte gegliedert: in die Entstehung der Zelle, ihr Wachstum, den Stoffwechsel, die Bewegung, Bewusstsein und den Austausch mit der Umwelt sowie schließlich die Fortpflanzung, die mehr ist als bloße Paarung im Sex, nämlich Verbundenheit in Liebe. Sie hat das mit einer unglaublich facettenreichen, von ihren Filmmusik-Studien inspirierten Musik unterlegt, die crossover Anleihen nimmt, Anspielungen und Zitate einbringt, aber sogar eine veritable Fuge zu setzen versteht.
Da wird auf Haydns „Schöpfung“ verwiesen oder „The Creation“ des Neoklassizisten Willy Richter, eine „endlose Melodie“ wie bei Wagner, dem Gesamtkunstwerker (!) entspinnt sich , Gershwins „Rhapsody in Blue“ klingt an, ein Bolero oder eine Bossa Nova oder auch mal Dudelmusik bei der Kaufhausszene, wo eine Schar aus den beiden Chören sich von der Stange bedienen und dem falschen Versprechen eines Konsumparadieses, Schlaraffenlandes, einer Utopia verfallen darf. Über solche szenischen Nebenrollen hinaus können Knaben- und Mädchenchor der Capella vocalis nicht nur anspruchsvoll kultiviert „Dona nobis pacem“ singen, sondern auch mal alle Stimmkultur fahren lassen und robust klingen wie die „We don’t need no“-Kids aus „The Wall“. Oder sich aus dem Off als Geplapper um Hunger und Eisdielen einspielen lassen. Ein schönes Vokalsolo hatte der junge Altist Christian Müller.
Oft pocht unter den ungemein abwechslungsreichen, gekonnt gesetzten musikalischen Themen, Motiven und Figuren ein Herzschlag, ob aus dem Off oder von der Percussion. Bilder und Bewegungen, Klang und Licht sind stimmig eingesetzt zu einer klaren, aber offenen Deutung.
Die Grenzen der Genres lösen sich auf, das lässt sich in der Musik wie beim Theater und in der bildenden Kunst gleichermaßen beobachten, und das darf positiv als spannende Bereicherung oder negativ als Zeichen kulturellen Niedergangs empfunden und gedeutet werden. In diesem erstaunlich konsistenten und schlüssigen multimedialen Gesamtkunstwerk passt das jedenfalls alles auf eine höchst bewundernwerte Art zusammen. Selbst die nur leicht poetisierten wissenschaftlichen Texte – als Fremdkörper, als Rahmen und gedanklich-philiosophischer Leitfaden wirklich provokante Widerhaken eines sinnlich-ästhetischen, in viel Schönheit gefassten Konzerttheaters – fügten sich dann doch irgendwie ein.
Von Carmen Nuñez, dieser erstaunlichen jungen Vielfachbegabung aus Zürich, wird man noch viel hören, auch wenn dieses einmalige „Current Flow“-Event längst verklungen ist und als Ereignis im Gedächtnis bleibt. Am allermeisten sie, aber auch die ganze Reihe der übrigen musikalischen und tänzerischen Akteure, die sich im langen Defilee feiern lassen dürften, waren am Ende nicht nur über den rauschenden Beifall glücklich.
Hinweis: Die Tanz Performerin Jana Rath war irrtümlich auf die Homepage einer Künstlerin gleichen Namens verlinkt. Wir bitten um Nachsicht. Der Fehler ist korrigiert. mab