Kunst – Die Tübinger Kunsthalle zeigt eine Werkschau des „Travelling Artist“ Christian Jankowski
TÜBINGEN. Den Stocherkahn, dieses schwer, mit „Bücherkisten“ beladene Boot, das jetzt den Blickfang im Großen Saal der Tübinger Kunsthalle bildet, steuerte er schon über den Neckar. Christian Jankowski gehört sicherlich zu den (deutschen) Künstlern, die weniger durch bestimmte Meisterwerke oder ihren prägenden Stil wirken als dadurch, dass sie den Begriff von Kunst verändern – Beuys gehört dazu, vielleicht der im Vorjahr gestorbene Joachim Sauter oder aber jener schwer zu fassende Proteus Martin Kippenberger, dem sich Jankowski ganz besonders widmet in der Werkschau, die seit Samstag im Musentempel auf der Tübinger Wanne zu sehen ist.
Die passende Schublade für den 54-Jährigen, der eine Professur für Bildhauerei (Installation, Performance, Video) an der Stuttgarter Kunstakademie innehat, ist die eines Aktions- und Konzeptkünstlers. Wichtiger als solche Kategorien sind zwei, drei Eigenschaften seiner Arbeiten: Sie sind evident, erklären sich selbst ohne Theorie, sie nutzen spartenübergreifend alle, zumindest viele Genres als künstlerische Mittel und verabschieden sich vom Künstler als dem konkreten Macher oder Schöpfer. Den „Leporello“, die Trennwände im oberen Teil der Kunsthalle, haben Theatermaler geschaffen. Aber sie sind noch echt, keine Reproduktionen, versichert Jankowski.
Der Ruhm des jungen Kunststudenten Christian Jankowski, WG-Genosse von Jonathan Meese nebenbei, begann schlagartig im Jahr 1992, als er mit Pfeil und Bogen bewaffnet aufbrach, um in einem Hamburger Supermarkt Brathähnchen, Joghurtbecher und Margarine zu erlegen – übrigens „ordentlich bezahlte“, wie er jetzt kundgab, und sich eine Woche lang davon ernährte. Das Video „Die Jagd“ ist – neben vielen anderen filmischen Dokumenten wie dem grotesken Jesus-Casting mit echten Klerikern im Vatikan – in dieser Werkschau natürlich auch zu sehen.
Dem – neben seinem akademischen Lehrer Franz Erhard Walther – großen Anreger, besonders seinem ganz großen Inspirator Martin Kippenberger, ist in der Kunsthalle ein eigener Abschnitt von Memorabilien gewidmet, darunter dieses Bild vom Bild vom Bild aus der Berliner „Paris Bar“: Kippenberger hatte, etwas provokant konservativ und nachlässig in der Technik, aber dokumentierend genau und großformatig, die Kultkneipe gemalt mit allen ihren aufgehängten Kunstwerken und Fotografien – und dann dem Wirt überlassen, gegen lebenslang freie Zeche. Jankowski ließ den Raum mit Bild erneut abmalen und auf den Leporello, die Raumteiler-Wand spannen. „Kippenberger! Ein Exzess des Moments“ hieß das Theaterstück zum Bühnenbild.
Auch Neuere und neueste Werke waren wichtig für Jankowski und Kuratorin Nicole Fritz, die Kunsthallen-Leiterin – wie der „Travelling Artist“, der eine bizarre Bondage im Studio der japanischen Fesselkunst-Meisterin Aska Ryuzaki in allen Ausdrucksformen festhält. Oder die Neon-Lichtinstallation „Visitors“. Oder die grenzwertige Schauspieler-Überwältigung „We Are Innocent When We Sleep“. Oder der Film im Film mit Götz George und anderen Größen des großen Kinos….
Oder eben diese Stocherkahnfahrt. Die Bücherkisten auf dem Boot, diesem Charon-Nachen, sind übrigens mit den Titeln von Ratgeber-Literatur versehen („Selbst-Optimierung“, wie er das als Begriff zusammenfasst), die Jankowski zuhauf im Bibliotheks-Nachlass seines Stiefvaters gefunden hatte.
Es gäbe noch ganz viele herausragend gelungene Werke, Serien – etwa die Fotoreihe „Heavy Weights“ im Hauptsaal – oder Aktionen zu beschreiben. Und übrigens ist Jankowski ein ganz wunderbarer, charmanter und ironisch-bescheidener Erzähler, dem man stundenlang bei der Führung durch sein Werk zuhören möchte. (GEA)
Info: Die Werkschau “I Was Told to Go With the flow“ zu Christian Jankowski ist in der Tübinger Kunsthalle, Philosophenweg 76, bis zum 30. Oktober 2022 zu sehen. Öffnungszeiten täglich (außer Samstag) 11-18, donnerstags bis 19 Uhr.