Bücherfest: Denker und Dichter
Bücherfest: Denker und Dichter
TÜBINGEN. Dieser Mann muss nur dem Mund aufmachen, ein, zwei Sätze sagen, dann wird einem klar: ein Denker und Dichter – vielleicht sogar in dieser Reihenfolge. Raoul Schrott las am Samstagnachmittag im Hof des Bürgerheims. Vielleicht war sein Gastspiel beim Tübinger Bücherfest nicht ganz so gut besucht wie der fast gleichzeitige Auftritt von Navid Kermani im nahen Wilhelmsstift. Aber die Leute lauschten dem Österreicher gebannt und hingen förmlich an seinen Lippen. Wie im Flug verging die Lesestunde.
Während der Deutsch-Iraner Kermani ganz Zeitgenosse ist und vor allem der Gegenwart zugewandt, bestellt Raoul Schrott das Feld der Geschichte bis zurück zu den Anfängen von Literatur und Kultur der Menschheit. Zwar war er mit seinem aktuellen Gedichtband „Inventur des Sommers“ gekommen, den der Tiroler und Weltbürger, ein großer Reisender und Zeitreisender als eine Frucht der Corona-Jahre und ihrer Lockdowns vorstellte.
Aber vielleicht liegt die größte Bedeutung dieses immens produktiven Mannes doch in seinen kulturhistorischen Arbeiten: nicht nur mit den Neuübertragungen – ein Übersetzer muss weniger die fremde als die eigene Spraache beherrschen – von Homers Ilias oder dem Gilgamesh-Epos um die Sintflut, sondern auch den dazugehörigen Schriften und Thesen. In der Stadt der seinerzeit aufsehenerregenden Troja-Kontroverse zwischen dem Ausgräber Manfred Korfmann und dem Althistoriker Frank Kolb darf der Hinweis nicht fehlen, dass Raoul Schrott den blinden Dichtersänger Homer noch weiter im Osten verortet als die von den Griechen eroberte und niedergebrannte Stadt Heinrich Schliemanns – nämlich in Mesopotamien.
Natürlich soll nicht unterschlagen sein, dass Raoul Schrott auch als Romancier vom 1995 erschienenen Erstling „Finis Terrae“ an bis zum Epos „Erste Erde“ große Verbreitung und große Verkaufs-Erfolge hatte.
Raoul Schrott ist im Dichten ein Magier und Zauberer der Sprache und ihrer Zwischentöne, aber immer auch ein etymologischer Analytiker. Er will „eine Stimme geben“, auch dem Abwesenden, dem Fremden, dem Vergangenen. „Im Unterschied zur Prosa sind Gedichte immer wahr“, sagt er und meint das mit einem tiefen, schweren und überzeitlichen Ernst, der immer wieder in überraschende Exkurse mäandert. Von den Musen und ihrer Herkunft als weiblicher Gerechtigkeitsgöttin bis nach Hatussa, der geheimnisvollen Hauptstadt der Hethiter in Ostanatolien.
Aber Raoul Schrott – 1964 in Landeck geboren, nicht wie nach einer frühen Selbstmystifikation auf einem weltreisenden Schiff und hoher See – hat auch einen zarten Humor und jede Menge Selbstironie, wenn er sein Dichten, Forschen und Reisen und „Dolmetschen“ in lebendigen Beschreibungen verortet. Er sucht und findet nicht nur mythische Brunnen, er weist auch auf die verblüffenden Doppeldeutigkeiten der Sprache hin: Weg und weg, Pass und Pass, Arm und arm.
Dass der verhüllende Schleier nicht im Koran vorkommt, sondern auf eine pakistanische Sitte zurückgeht, erfahren die staunenden Zuhörer anhand der Suleika-Figur ganz nebenbei und sehen dazu auch Goethes Welt des „West-östlichen Divan“ aufgerufen. Oder sie hören die böse Sottise des Weimarer Olympiers in einem ganz neuen, ganz weiten und großen Zusammenhang: „Das Niederträchtige bleibt das Mächtige.“
Die Besucher dankten mit langem Applaus für eine Lesestunde, die sie in die Magie der Sprache, die Weite der Welt und die Tiefe der Zeit führte.