Kino

„Anora“ – Eine neue Filmsprache

Sean Bakers „Anora“ hat bei den Oscars abgeräumt – auch seine Hauptdarstellerin Mikey Madison gewann

TÜBINGEN. Schon die Goldene Palme von Cannes hatte „Anora“ gewonnen. Jetzt hat Sean Bakers Film auch bei den Oscars abgeräumt: Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch, Bester Schnitt – dazu mit Mikey Madison auch den Academy Award für die Beste Hauptdarstellerin. Vielleicht nehmen die regionalen Kinos den Film noch einmal ins Programm. Wir reichen hier eine Kritik nach. Denn hier ist nicht nur ein toller Film ausgezeichnet worden. Hier schrieb ein Regisseur mit seiner ganz eigenen, ganz neuen Filmsprache Kinogeschichte – wie zuletzt vielleicht Quentin Tarantino mit „Pulp Fiction“.

Jubel beim „Anora“-Team über den Oscar-Regen in Los Angeles. Repro: mab

Sean Bakers Film ist auch so gut, weil er eine gute Geschichte erzählt. Zurecht gewann auch sein Drehbuch einen Oscar. Ein wenig gegen den Strich gebürstetes „Pretty Woman“, gewisse Anklänge an „Body Guard“, „Pulp Fiction“ und manches mehr. Für das Milieu der Prostitution scheint sich der Regisseur schon länger zu interesssieren, weshalb er es im ersten Teil auch so verstörend genau und fulminant zu schildern versteht.

Die russisch-stämmige Anora, die sich lieber amerikanisch Ani nennt, macht in Brooklyn mit seiner großen russischen Colony Brighton Beach (neben Coney Island) in einem größeren Club relativ selbstbestimmte Sexarbeit – auf diesen Begriff hat man sich geeinigt: ein bisschen Strippen, Tanzen, Fummeln, Abwichsen, auch mal in die Box oder gegen gutes Geld mit zum Freier oder anderswohin.

Irgendwann kommt Wanja (Mark Eidelschtejn) in den Puff-Club, ein völlig verzogenes Oligarchensöhnchen, das die Traumvilla der Eltern auf Long Island bewohnen, die Clique anführen, Parties steigen lassen und stets bedröhnt hemmungslos mit dem Geld der in Russland lebenden Eltern um sich schmeißen darf. Der armenische Security-Mann Toros (Karren Karagulian) und sein Team sollen ein wenig über den Knaben wachen.

Weil ihr Sex so gut ist, verliebt sich dieses Bürschchen in Ani, bucht sie erst für Tage, dann dauerhaft und jettet schließlich nach La Vegas, um sie im Heiratsparadies kurzerhand zu ehelichen. Diese Dummheit sollen Toros, der pulp-fiction-hafte Garnick (Watsche Towmasjan) und der stille Bodyguard Igor (Juri Borissow) mit mehr oder minder sanfter Gewalt und etwas Geld rückgängig machen. Weil aber Wanja getürmt ist, kommen sogar die Eltern in Panik aus Moskau angeflogen. Am Ende steht tatsächlich die Scheidung der Blitzehe, aber auch eine ganz leise und ganz lakonische Pointe.

Bei der Regie könnte man sich an einen ganz anderen Großen erinnert fühlen, unter dessen Charisma, Kuratel und ganz eigenem Stil sich selbst minderbegnadete Mimen in jeder noch so kleinen Nebenrolle zu unglaublicher Intensität aufschwingen konnten: Rainer Werner Fassbinder. So ist das hier auch: Sie spielen alle wie in einem Rausch, in Trance, vielleicht in Hörigkeit, wer weiß – jedenfalls unfassbar genau, dicht und schlicht perfekt.

Man ist schon deshalb versucht, Sean Baker einen genialen Regisseur zu nennen. Da stimmt alles, auf atemberaubende Art. So exakt und mit so wenig Aufwand hat man die Atmosphäre von Brooklyn, Long Island oder Brighton Beach kaum je eingefangen gesehen. Ein Signet – wie Tarantino mit dem Blick aus dem Kofferraum – setzt er mit den Autofahrten auch. Der Kameraführung der dänischen Dogma 85-Pioniere hat er ein ehrfürchtiges Denkmal gesetzt und gezeigt, wie sie (Kamera: Drew Daniels) ganz undogmatisch eingesetzt werden kann.

Deshalb hat er auch für seinen eigenen Schnitt den Oscar bekommen, der ein inneres Tempo schafft, einen Rhythmus wie bei einem Spitzendrummer des Cool Jazz. Die durchgängig knüppelharte Vulgarität der Ausdrucksweisen – in diesem Nutten-Milieu ebenso wie unter den nach ihren Milliarden stinkenden russischen Oligarchenkreisen – ist zwar gewöhnungsbedürftig. Aber der (wegen Armenisch und viel Russich auf Untertitel angewiesene) Sprach- und Soundtrack ist ein sich überlagerndes komplexes Kunstwerk für sich. Herausragend übrigens auch die deutsche Synchronisation.

Der Begriff „Dramody“ ist aufgekommen als neuartige Genre-Bezeichnung für diesen Film. Schlappe 6 Millionen Dollar soll die Independant-Produktion nur gekostet haben. Ja, „Anora“ ist ein Drama bis zur Tragödie, es ist eine originelle, unglaublich behutsam angebahnte Love-Story, es ist eine komödiantische Groteske, es ist ein Stück Sozialkritik und durchaus ein richtig breites, international zugespitztes Gesellschaftsgemälde mit Sex und Geld und Macht und Rausch als seinen Zentren. Und das alles in einer ganz eigenen, ganz neuen Filmsprache. Spätestens mit diesem Film kann man über den Regisseur Sean Baker sagen: A star is born. Die Goldene Palme und die fünf Oscars sind nur die Bestätigung dafür.

(FSK ab 16)

Nachtrag: Im Tübinger Kino Museum ist „Anora“ am Samstag, 8. 3. 2025 um 20.15 Uhr noch einmal zu sehen.

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