Bühne

„All das Schöne“ – Wofür es zu leben lohnt

Am LTT inszeniert Intendant Thorsten Weckherlin Duncan Macmillans Solo mit Publikum um Selbstmord und Depression für Jonas Hellenkemper.

TÜBINGEN. Kinder sind klug. Als die Mutter mit ihrem Selbstmordversuch den Siebenjährigen verstört, beginnt er ihr in seiner fassungslosen Seelennot eine Liste zu schreiben mit all den Dingen, die schön sind am Leben. Sie wird ihn fortan sein Leben lang begleiten, auch durch eigene Abgründe. Das Stück von Duncan Macmillan erweitert die Grenzen des Theaters zur Mitmach-Show hin, aber „All das Schöne“ („Every Brillant Thing“) war mit all seinem Witz, der nachdenklichen Komik und Lebensklugheit seit seiner Premiere 2014 in Edinburgh weltweit ein Erfolg. Nicht zuletzt des hervorragenden Darstellers Jonas Hellenkemper wegen, der auch als reaktionsschnell improvisierender Moderator glänzt, ist das „Solo mit Publikum“ auch im Tübinger LTT-Oberstübchen stets ausverkauft.

Beim Betreten des hell erleuchteten kleinen Saals bekommt jeder Zuschauer eine Karte in die Hand gedrückt, auf der unter einer Nummer ein Begriff steht, „Eiscreme“ etwa oder „Länger aufbleiben dürfen“ oder „Leute, die stolpern“. Der Boden ist bedeckt mit einem Meer von solchen und anderen Zetteln. Die Geschichte hat ein anrührendes Vorspiel, die erste Begegnung des Jungen mit dem Tod: „Sherlock Bones“, der Mischling aus Boarder Collie und Dobermann, der den Buben das ganze junge Leben lang begleitet hat, muss eingeschläfert werden. Jonas Hellenkämper engagiert sich aus dem Publikum eine Tierärztin, eine Thermoweste als Hund und einen Rotstift als erlösende Todesspritze.

Der Hund wird eingeschläfert. Fotos: LTT

Auch der Vater, der mit seinem Sohn zur knapp geretteten Mutter ins Krankenhaus fährt, wird taktvoll und ohne Aufdringlichkeit gecastet. Sie habe einen Fehler gemacht, wird dem Jungen gesagt, der nach dem Warum fragt. Beim zweiten Versuch der Mutter, zehn Jahre später, wird die Liste des Schönen fortgeführt. Der schüchterne Student heiratet eine schüchterne Studentin, die seine im Lieblingsbuch versteckte Liste findet, auch gut findet – eine richtig anspruchsvolle Nebenrolle für die Gecastete samt gemeinsamem Gitarrenspiel. Sie sind schon wieder getrennt, als der dritte Versuch der Mutter, Autoabgase, mit dem ersehnten Freitod endet. „Es gibt neben der Wut auch ein kristallklares Begreifen, weshalb jemand nicht mehr weiterleben will.“

All das Schöne, auch Musik und Tanz. Foto: LTT

Seine Moderatorenrolle füllt Jonas Hellenkämper so sensibel wie souverän. Die eingestreuten Reflexionen haben Dichte und Gewicht, nicht zuletzt wegen seiner feinen Sprachbildung. Beim Szenischen schließlich setzt er seine ganze schauspielerische Kraft frei – ob in leiser Melancholie und stiller Trauer, in Witz und übermütiger Komik oder im ekstatischen Tanz. „All das Schöne“ ist sein großes Solo.

Eigentlich ist es kein Mitmach-Theater der guten Ratschläge. Es gibt im Stück keine Rührseligkeiten und keine hohlen Parolen, nicht die Appelle von Krisentelefon-Helfern. Der Autor Duncan Macmillan aber stand schon zu seinem Grundmotiv: „Tu’s nicht. Es wird besser.“ Und er sagt Sätze wie: „Um in der Gegenwart zu leben, müssen wir in der Lage sein, uns eine Zukunft vorzustellen, die besser sein wird als die Vergangenheit.“

Ein begeistertes, gelöstes Publikum darf auch die eigenen Mitspieler feiern. Foto: Martin Bernklau

Sehenswert. Erlebenswert. Es gab langen Beifall.

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