In den Wandel-Hallen des Reutlinger Kunstmuseums zeigt die 19. Grieshaber-Stipendiatin die Früchte ihrer Arbeit
REUTLINGEN. In Reutlingen geboren, in Metzingen aufgewachsen, viel auf dem Land und dem Bauernhof gewesen, zur Kunst gekommen, als Meisterschülerin von Tamara Grcic in Mainz und am Royal College of Art London studiert: Jetzt kam Simone Eisele als 19. Stipendiatin der HAP-Grieshaber-Stiftung zurück in die Heimat, lebte und arbeitete zehn Monate im Atelier Ringelbachstraße. Am Sonntagvormittag eröffneten Kulturamtsleiterin Anke Bächtiger und Kurator Johannes Krause-Schenk im Galerie-Untergeschoss der Wandel-Hallen unter den eleganten Gewölbebögen und in sonnig warmem Kunstlicht ihre Ausstellung, die den Titel „after Millet“ trägt.
Das bedarf der Erklärung. Simone Eisele liefert sie selber, mit Hintergrund. An Akademien ist es ja fast verpönt, sich mit Kunstgeschichte zu beschäftigen. Die professoralen Lehrer, die Meister wollen Tabula rasa, wollen das weiße Blatt bei ihren Eleven. Sie aber entdeckte den französischen Realisten Jean-François Millet (1814 bis 1875) für sich, der nicht nur Vincent van Gogh beeinflusste, sondern mit seinen Landschaftsbildern wie den berühmten „Ährenleserinnen“ oder dem „Kornschüttler“, die Bilder der bäuerlichen Arbeitswelt sind, ihrer Armut, Fron und Mühsal, von sozialrevolutionärer Seite zu einer Art „Popstar“ seiner Zeit gemacht wurde, so der Kurator.
Das war wohl ein Missverständnis. Millet distanzierte sich von solcher Deutung. Ihm ging es eher um Respekt und Würde, um die einfachen Menschen, wie bei Caravaggio. Dafür darf er mit den weichen Übergängen seiner Konturen, Linien und Farben, auch dem Malen „plein air“ als ein Vorläufer des Impressionismus gelten.
Von Kollwitz, Ovid und Lady Di
Eine andere Anregung für Simone Eisele war eine Frau, deren grafische und bildhauerische Werke, deren „leichten Zeichenstrich bei den schweren Themen“ sie ebenso bewundert wie die schriftlichen Zeugnisse eines politischen Einsatzes für soziale Gerechtigkeit, für den Frieden und für die Frauen mit künstlerischen Mitteln: Käthe Kollwitz. Bei den seriellen weißen Masken, die Simone Eisele in „Sleepy“ verwendet, ist deren unverkennbares Konterfei das einzige einer wirklichen Person.
Klare Zeichen. Simone Eisele zeigt sieben Installationen, die ikonische Symbole aus der Natur und der Kultur pop-artig bis an die Grenze zum Kitsch kombinieren und stilisieren. Sie transportiert das trügerische Idyll wie ein industrialisiertes Serienprodukt, als Multiples in den stillgestellten Raum des Musealen. Gearbeitet sind sie aus Polystyrol, Gips und Acrylharz.
Die Besucher begrüßt die in warmes Gelblicht getauchte Arbeit „Millet and I“. Auf sieben weißen Reliefsockeln mit Vignetten von Ähre, Wühlmaus, Blume und Frucht stehen verschieden geneigte Schnitthalm-Gruppen in leicht zitronenlimonadig verfremdetem Strohgelb. Nebenan erheben sich als „bear“ (im Englischen „tragen“ und „Bär“ zugleich) 13 in viktorianischem Stil ornamentierte Poller, teils völlig bis zum Penishaften von Montageschaum-Schnee bedeckt und umstanden von Schweizer Souvenir-Glocken mit eingeschriebenen Botschaften wie „Love“ oder „4ever“. Neben Ovids Metamorphosen, einer Lesefrucht der Stipendiats-Monate, hat auch der zur Pilgerstätte gewordene Pariser Unfallort von Lady Di an der Place de l’Alma Simone Eisele inspiriert.
Auch auf der „Golden Meadow“, ein wenig überladen an Symbolen, etwas verkünstelt und verbastelt vielleicht, tauchen neben den ruralen Zeichen die Glocken wieder auf, aber auch mythische Signets einer postmodernen Unterhaltungswelt und die Fasnets-Masken historischen Brauchtums . „By another name“ ist weit schlichter und versammelt auf vier weißen Wandquadraten nichts weiter als sorgsam verteilte und grob stilisierte Kunstrosen. Auf kubischen Segmenten von Kunstrasen der Assemblage „Gardens and Gatekeepers“ finden sich die Blumen der Liebe auch, bewacht von einer Palme.
„Sleepy“ heißt die vielleicht schönste und klarste Installation der Ausstellung: weiße Kuben, wie grob verputzt, Kapitelle ionischer Säulen und jene marmorhaften Masken, darunter das Antlitz der Käthe Kollwitz – wie in einer Art Familienaufstellung sortiert und drapiert mit den Früchten des Feldes und der Arbeit, von der Rose bis zur Kartoffel, alles in dezent ironischer Vergröberung zur Massenware.
Die Ausstellung „Simone Eisele: after Millet“ ist im Untergeschoss der Reutlinger Wandel-Hallen, Eberhardstraße 14, bis zum 1. September 2024 zu sehen. Am 22. desselben Monats endet in der Frischzelle_30 des Kunstmuseums Stuttgart die bereits im vergangenen Herbst eröffnete erste museale Einzelausstellung mit Werken von Simone Eisele, thematisch und stilistisch noch etwas weiter gefasst als die Reutlinger Stipendiums-Arbeiten.