Das als Familien-Idyll verstörende Auschwitz-Drama von Jonathan Glazer, als ein Oscar-Favorit gehandelt, läuft im Tübinger Museum und im Reutlinger Kamino
TÜBINGEN/REUTLINGEN. Sandra Hüller kann alles spielen. Sogar so etwas wie eine zur Hauptrolle ausgedehnte Nebenrolle. Und das mit einer atemberaubenden Präzision, die zu einer beiläufigen Intensität in einem beispiellosen Film wird: das banale Böse. In „The Zone of Interest“, der amerikanisch-britisch-polnischen Co-Produktion des englischen Regisseurs Jonathan Glazer, gibt sie Hedwig Höß, die Gattin des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß, die gewiss nicht so brutal gewesen sein mag wie eine Ilse Koch es war, in gleicher Funktion als „Hexe von Buchenwald“ berüchtigt, aber doch von gespenstischer Monstrosität.
Als Mutter liebt diese Hedwig ihre fünf Kinder. Ein bisschen kalt vielleicht, ein bisschen hart, hat sie doch deren Wohl und das der ganzen Familie im Sinn. Als „Königin von Auschwitz“ im geraubten Nerz etwas eitel und selbstisch, etwas habgierig, genusssüchtig und sehr ehrgeizig für ihren (von Christian Friedel fast weich dargestellten) Gatten, kommandiert sie in ihrem Reich, diesem Paradies einer Villa mit ausgedehntem Garten direkt hinter der stacheldrahtbewehrten Mauer des Stammlagers, die bediensteten Häftlinge so, dass man schon merkt, aus welchem echt treudeutschen, nationalsozialistischen Holz sie geschnitzt ist. Als die eigene Mutter heimlich abreist, bekommt das Hausmädchen den Zorn der Herrin zu spüren.
Das Lager selbst, in dessen Filiale Birkenau unter dem Kommando von Rudolf Höß weit mehr als eine Million Juden, dazu Sinti und Roma, auch Homosexuelle und sowjetische Kriegsgefangene mit Zyklon B vergast und in den sechs Krematorien der Firma Topf & Söhne, Erfurt, rund um die Uhr verbrannt wurden, kommt kaum ins Bild – und spielt genau deshalb die absolute Hauptrolle. Ohne diesen so dröhnend präsenten wie totenstill fast abwesenden Hintergrund – gelegentlich hört man wie von Ferne Hundegebell, Schüsse, das Klagen eines gepeinigten Häftlings, einfahrende Laster, die Lokomotive eines Todeszugs, in Oranienburg auch Bomberflotten im Anflug auf Berlin – wäre die Geschichte von höchster Langeweile.
Im Grunde geht es um die Versetzung des fürsorglichen Familienvaters (aus einem banalen Idyll von größtmöglicher Ödnis direkt neben dem größtmöglichen Grauen) nach Oranienburg – der wirkliche SS-Obersturmbannführer Höß kam nach Berlin – ins T-Gebäude der KL-Inspektion direkt neben dem Lager Sachsenhausen, was Hedwig mit aller Macht zu hintertreiben versucht und am Ende mit Erfolg rückgängig machen kann: Weil nur Höß als begabter Organisator fähig für die Großaufgabe scheint, rund 600 000 ungarische Juden zu vergasen, jeden Tag 12 000 aus vier Todeszügen, wird er auf Geheiß des Reichsführers SS Heinrich Himmler an seine Wirkungsstätte Auschwitz zurückversetzt.
Als Höß diese frohe Botschaft nach einem rauschenden Fest mit den Kameraden telefonisch seiner Frau mitgeteilt hat, muss er im Treppenhaus des nächtlich leeren T-Verwaltungsgebäudes kotzen. Das ist nur eine von vielen kleinen, aber verstörenden Szenen, die diesen Film, frei adaptiert – doch historisch in Vielem präziser und mit Klarnamen – nach dem Roman des britischen Schriftstellers Martin Amis zu einem filmischen Kunstwerk macht, das nicht nur Oscars verdient hätte, sondern wohl gleichrangig neben „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg oder Claude Lanzmanns „Shoa“ stehen bleiben wird.
Verstörend und eindringlich, wie der angelnde Höß im Flüsschen Soła hinter dem Haus einen menschlichen Kiefer aus dem Wasser fischt, weil ein paar kilometer flussaufwärts die Asche aus den Krematorien von Auschwitz II-Birkenau, dem Vernichtungslager, ins Wasser gekippt wurde, und er seine planschenden Kinder sofort zum Reinigen in die Badewanne schickt.
Verstörend auch die in Infrarot-Schwarzweiß gedrehten Nachtszenen von der jungen polnischen Helferin, die den geschundenen Häftlingen heimlich Tomaten und Äpfel an ihre Arbeitsplätze außerhalb des Lagers drapiert. Den heiße Dampf der einfahrenden Lokomotiven und den Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien visualisiert diese Technik ebenfalls in grellem Weiß. In der Schluss-Szene werden im heutigen Museum des Stammlagers Auschwitz I die dort erhalten gebliebene kleine Gaskammer, die zwei kleinen Krematoriumsöfen und die Vitrinen mit Schuhen, Koffern, Brillen der Ermordeten und mit den verbliebenen Zyklon B-Dosen in stiller Geschäftigkeit für die Besucher des nächsten Tages gereinigt.
Der Film ist in deutscher und polnischer Sprache an Originalschauplätzen von Oświęcim oder nahe daran abgedreht worden, zum Teil unter experimentell-improvisatorischen Bedingungen mit vielen Big-Brother-Kameras in einem nachgebauten Haus. Die originale Kommandanten-Villa ist, wie in Treblinka oder Stutthof auch, heute in Privatbesitz.
Die von Mica Levi komponierte Filmmusik kam – bis auf die Sequenzen zum bildlosen Einstieg und Abspann – nicht in die Endfassung. Auch eine kühne, formal herausragende und paradoxe Entscheidung: Die Fast-Stille, oft von einem ominösem Brummen getragen, wirkt zwar wohltuend (gegenüber der gegenwärtig angesagteren akustischen Zukleisterung vieler Filme). Doch diese Stille dröhnt geradezu geisterhaft und raubt den Atem.
Sandra Hüller darf zurecht auf einen Darsteller-Oscar hoffen. Sie ist auch für „Anatomie eines Falls“ nominiert. Aber sie steht mit Christian Friedel nur an der Spitze eines bis in die Kinder-Rollen herausragend besetzten Casts in einem grandiosen Film über ein gespenstisches Familienparadies am Rande des Grauens. (FSK ab 12 Jahren)
Hier sind die Links zu Kritiken weiterer Filme, die für die Oscar-Verleihung am 10. März in Los Angeles nominiert sind:
Napoleon (Ridley Scott) https://cul-tu-re.de/napoleon-im-kino-voila-un-homme/
Maestro (Bradley Cooper) https://cul-tu-re.de/maestro-der-bernstein-film/
Perfect Days (Wim Wenders) https://cul-tu-re.de/wim-wender-perfect-days/
The Zone of Interest (J.Glazer) https://cul-tu-re.de/zone-of-interest-die-banale-boese/
Oppenheimer (C. Nolan) https://cul-tu-re.de/oppenheimer-jenseits-der-kritischen-masse/
Anatomie eines Falls (J.Triet) https://cul-tu-re.de/oscars-der-fall-sandra-hueller/
Das Lehrerzimmer (I.Catak) https://cul-tu-re.de/das-lehrerzimmer-eine-tragoedie/