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Wim Wenders: „Perfect Days“

In den Tübinger Arsenalkinos und im Reutlinger Kamino laufen die „Perfect days“ von Wim Wenders, ein japanischer Oscar-Kandidat

TÜBINGEN. Wim Wenders gibt belanglosen Dingen und Geschehnissen Bedeutung in den Köpfen seiner Zuschauer. Was einmal eine Doku über die schönsten öffentlichen Toiletten der Olympiastadt Tokyo werden sollte, gilt nun als Oscar-Kandidat und reine Film-Poesie: „Perfect Days“. In den Tübinger Arsenal-Kinos und im Reutlinger Kamino läuft der Film.

Das Versprechen großer Bilder im schmalen Format: die Totale über Tokyo bei Sonnenaufgang. Es wird nicht eingehalten. Denn Tokyo ist furchtbar hässlich, selbst Sky Tree, der Turm, der den Stadtteil Shibuya überragt. Nur die Toiletten nicht, die Bäume im Park, das sanft alternde Gesicht von Hirayama (Koja Yakusho) und ein paar andere Figuren.

Hirayama führt ein ödes Leben. Er lebt allein. Er ist ein schweigsamer Mann. Morgens steht er von seinem Futon auf, macht seine Morgentoilette, packt seine Sachen, legt den Blaumann an, zieht sich vor der Haustür einen Automatenkaffee und fährt mit alter Musik von alten Kassetten zur Arbeit.

Für „The Tokyo Toilet“ reinigt er Toiletten, wunderschöne luxuriöse öffentliche Toiletten. Er tut das mit Hingabe, ja mit Liebe. Seine Mittagspause verbringt er im Park, fotografiert mit einer alten analogen Kamera die Kronen der Bäume, von denen er ab und zu einen Setzling für seine Bonsai-Zucht mitnimmt. Manchmal reinigt er sich sorgsam in einem öffentlichen Bad, wie Japaner das tun. Hin und wieder nutzt er einen Waschsalon, kauft Bücher oder Musik-Cassetten. Den Feierabend verbringt er bei Suppe und Absacker in der Bar von Wirtin Mama. Dann zieht er sich zurück, sortiert Fotos oder liest. Faulkner zu Beispiel, oder Aya.

Bevor dieses Gleichmaß langweilt, lassen Wim Wenders und sein Produzent Takuma Takasaki ganz sacht die Handlung von vier Kurzgeschichten einfließen. Der junge Kollege Takashi, etwas chaotisch, etwas weniger motiviert als sein Vorarbeiter, kündigt den Job. Bereitwillig hatte ihm Hirayama aus mancher Patsche helfen müssen, finanziell und in Liebesdingen mit seiner Angebeteten Aya (Aoi Yamada), die nicht nur eine schrill blonde Bardame ist, sondern auch von der alten Rockmusik auf alten MC’s eigentümlich berührt ist – und Kurzgeschichten schreibt.

Eines Tages steht Hirayamas Nichte Niko (Arisa Nakano) vor der Tür, die nach einem Streit mit ihrer mondän lebenden Mutter Keiko (Yumi Asou) von zuhause ausgerissen ist. Ein paar Tage lang lebt sie das Leben des Onkels mit, bevor sie sich dem sanften Zwang fügt und in der Luxuslimousine wieder abgeholt wird. Hiryama kümmert sich um einen Obdachlosen und begegnet dem krebskranken Tomoyama, den es viele Jahre nach der Trennung des Paares noch einmal zu Mama (Sayuri Ishikawa) zieht, der musikalischen Wirtin.

„Perfect Days“, von Franz Lustig in ruhigen, schmucklos schlichten Bildern abgefilmt, ist fast eine Doku geblieben und fast Meditation geworden. Es ist ein stiller, fast schweigsamer Film. Hirayama spricht kaum zwanzig knappe Sätze. Der Soundtrack besteht nur aus den alten Songs, die Wenders so liebt: Lou Reed („Perfect Days“) und Velvet Underground, Patti Smith und Otis Redding, das „House of the Rising Sun“ als Zitat in Mamas Live-Version.

Vielleicht findet nicht jeder Zugang zu dieser japanischen Welt, die Wenders so liebt. Aber vielleicht gehören die „Perfect Days“ für viele Zuschauer auch zu jenen Filmen, nach denen man das Kino als veränderter Mensch verlässt.

Die „Perfect Days“ sind auch östliche Philosophie. „Was vergangen ist, ist vergangen. Jetzt ist jetzt“, sagt Hirayama am Schluss. Koja Yakusho bekam für diese Rolle im Frühjahr in Cannes schon den Darsteller-Preis. Jetzt wird das leise Werk des bald 80-jährigen Wim Wenders für den Oscar gehandelt. Mal sehen.

Hier sind die Links zu Kritiken weiterer Filme, die für die Oscar-Verleihung am 10. März in Los Angeles nominiert sind:

Napoleon (Ridley Scott) https://cul-tu-re.de/napoleon-im-kino-voila-un-homme/

Maestro (Bradley Cooper) https://cul-tu-re.de/maestro-der-bernstein-film/

Perfect Days (Wim Wenders) https://cul-tu-re.de/wim-wender-perfect-days/

The Zone of Interest (J.Glazer) https://cul-tu-re.de/zone-of-interest-die-banale-boese/

Oppenheimer (C. Nolan) https://cul-tu-re.de/oppenheimer-jenseits-der-kritischen-masse/

Anatomie eines Falls (J.Triet) https://cul-tu-re.de/oscars-der-fall-sandra-hueller/

Das Lehrerzimmer (I.Catak) https://cul-tu-re.de/das-lehrerzimmer-eine-tragoedie/

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