Kino

„The Outrun“ – Heilung in der Heimat

Im Tübinger Museum und im Reutlinger Kamino läuft „The Outrun“ an Nora Fingerscheidts Film über die Trunksucht einer jungen Frau

TÜBINGEN / REUTLINGEN. Es herrscht Chaos in diesem Film: Die Kamera taumelt und torkelt, die Schnitte rasen, das Licht flackert, blitzt auf und verdunkelt völlig, die extremen Close ups machen schwindeln, die Chronologie springt wild hin und her. Doch das ist Absicht in „The Outrun“, dem Film von Nora Fingerscheidt („Systemsprenger“) über Rona, eine Londoner Biologin, die auf den rauen Orkney Islands, ihrer Heimat, vom Alkohol loskommen will, der ihr junges Leben voll im Griff hat. Saoirse Ronan spielt diese zerrissene Suchtkranke mit ungeheurer Intensität.

Auch blaue Haare helfen Rona nicht
wirklich weiter. Fotos: Verleih

Als Widerpart führt der Film diese große Landschaft und ihre Natur vor. Ruhe allerdings liegt auch nur bei Nacht und Nebel über diesem Archipel nördlich von Schottland. Meist donnert die Brandung gegen die Klippen und tosen Herbststürme aus dem Grau des Horizonts unerbittlich über die Weiden der kargen Gegend. Gnadenlos kalt erzählt auch Ronas Stimme aus dem Off über die nüchtern biochemischen und medizinischen Fakten zum Alkohol und zu den Folgen der Trunksucht. Sie kann auch in wissenschaftlicher Sachlichkeit über den Wellengang berichten, über den vom Aussterben bedrohten Wachtelkönig oder über Ambra, das begehrte Sekret des Pottwals, das nach Stürmen gelegentlich als Klumpen angespült wird, über Seehunde, Quallen und Algen.

Gemeinsam mit Amy Liptrot, der Autorin des gleichnamigen autobiografischen Romans, hat Nora Fingerscheidt das Drehbuch verfasst. Die Kamera hat sie wieder dem Schweizer Yunus Roy Imer anvertraut.

Bis in die Kindheit zurück reichen die Rückblenden. Am Vater, einem Schafzüchter, der der das Haus verkaufen musste und im Camping-Kabuff über dem Stall lebt, hängt Rona, obwohl er offenbar manisch-depressiv ist. Sie leistet ihm Geburtshilfe beim „Ablammen“. An der Mutter, die sich nach der Trennung der frömmlerischen Geborgenheit eines christlichen Bibelkreises anvertraut, hängt sie auch. Ihren fürsorglichen und großmütigen Freund Daynin (Paapa Essiedu) hat sie geliebt. Aber irgendwann konnte der nicht mehr umgehen mit ihren Exzessen und Eskapaden, ihren Ausbrüchen von Hass und Gewalt, auch gegen ihn.

Rona erleidet selber Gewalt, nachdem sie im Vollrausch aus einer Kneipe geflogen ist und in die Hände eines Vergewaltigers fällt, dem sie nur knapp entrinnt. Sie beschließt, sich für einen strengen Entzug zu bewerben. Rückfälle, neues Elend. Die Biologie hat sie nach dem Examen auch nicht mehr weitergeführt und statt dem Postdoc lieber die Arbeitslosigkeit gewählt. Sie wird es noch einmal in ein Vogelschutzprogramm schaffen und flüchtet schließlich auf die einsamste aller Orkneys, um selber trocken zu werden, aus eigener Kraft.

Auf einem archaischen Fest der 60 Bewohner fragt sie – man erkennt einander – den alten Ladenbesitzer, seit wann er nicht mehr trinke. Er nennt die Jahre, Monate, Tage und sagt ihr, der tägliche Kampf höre nie auf, aber er werde leichter. Ein offenes Ende, frei von Kitsch, wie die eindringlichen herbschönen Naturaufnahmen auch. Nora Fingerscheidts filmische Mittel sind heftig, vielleicht auch anstrengend für die Zuschauer, aber sie sind nie ästhetischer Selbstzweck aus künstlerischem Übermut: Sie fassen den Zustand, die Zustände von Rona mit allen Brüchen und Sprüngen exakt in Bilder. Und diese Figur spielt Saoirse Ronan fantastisch. Ein großer Film, an dem Vieles preisverdächtig ist. (FSK ab 12)

Hauptdarstellerin Saoirse Ronan, Autorin
Amy Liptrot und Nora Fingerscheidt
(v.l.)

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