Ingo Bredenbach führte mit dem BachChor, der Camerata viva und Solisten in der Tübinger Stiftskirche Antonín Dvořáks „Stabat Mater“ auf
TÜBINGEN. Der Sinn des „Stabat mater“ ist eigentlich schlicht. Das mittelalterliche Mariengedicht zeigt die bitteren Tränen der Mutter Jesu angesichts ihres am Kreuz sterbenden Sohnes. Sich dieses trostlose Leid anzueignen, soll den Gläubigen in ihrer Todesstunde Hilfe sein und die eigene Erlösung zu ewigem Leben unterstützen, die dieser Kreuzestod erst möglich macht. Antonín Dvořák (1841 bis 1904) war noch in seinen Dreißigern, als er sich dem Stoff zuwandte, der schon so viele Komponisten vor ihm fasziniert hatte. Vielleicht spielte der Tod zweier seiner Kinder eine Rolle dabei. Das „Stabat Mater“ wurde mit seiner gigantischen Londoner Aufführung so etwas wie sein internationaler Durchbruch.
Der BachChor ist ein riesiger Chor, wenn auch nicht annähernd so stark an Köpfen wie jenes Ensemble, über das Antonín Dvořák in England gebot. Der Stiftskirchenkantor hatte am Sonntagabend diese weit über hundert Stimmen mit einem eher kammermusikalisch kleinen Ensemble der Camerata viva kombiniert, was dank der sängerischen Disziplin und Aufmerksamkeit erstaunlich gut funktionierte.
Über die traditionelle gemischte Aufstellung des BachChors hinaus, die doch irgendeiner geheimen Ordnung zu folgen scheint, wartete Ingo Bredenbach noch mit ein paar weiteren Besonderheiten auf: Die vier Gesangssolisten Susan Eitrich (Sopran), die junge Altistin Pauline Stöhr, Tenor Bernhard Schneider und Lucian Eller (Bass) waren leicht rechter Hand zwischen Orchester und der Sängerschaft aufgestellt, Gleich daneben, ganz zentral, waren die Pauken postiert. Ganz links außen, wie gewohnt, fand sich das Horn, dem Dvořák, vielleicht auch Bredenbach eine ganz besondere Rolle zugedacht hat.

In die leisen und leeren Oktaven über dem Fis hinein lässt Dvořák als musikalischen Ausdruck größten Schmerzes zarte absteigende Chromatik einfließen. Dieser Kopfsatz von geradezu sinfonischer Ausdehnung bleibt aber nicht bei sanfter Stille, sondern türmt sich in Wechsel aller Gruppen und aller Solisten zu mächtiger Wucht auf. Eigentlich ist mit diesem Eingangssatz (auch textlich) fast schon alles Wesentliche des Stücks gesagt. Was der Komponist aber durch alle zehn Nummern hindurch an Kontrasten, Einfällen, Formen und Varianten aufführt, das zeichnet eben die ganze Fülle des Reichtums aus, über die Antonín Dvořák gebietet.
Die Schlussfuge – technisch anspruchsvoll, während sonst das Klangliche mit seinen extremen Kontrasten die größten Herausforderungen stellt – macht das „Stabat Mater“ mir der Wiederaufnahme der Chromatik zu einer Ringkomposition. Es war sehr eindrucksvoll und ausdrucksstark, wie sich Orchester- und Chorstimmen samt den ausgezeichneten (und in der Stimmfarbe sehr gut zueinander passenden) Vokalsolisten geschmeidig umeinanderschlangen, auf große dramatische Ausbrüche hin verdichteten, mal in ätherischen Pianissimo-Klängen oder stammelnd verstummenden Einwürfen den Schmerz größter Verlassenheit ausdrückten.
Das alles dirigierte Ingo Bredenbach sehr genau, bis in gespenstische Generalpausen oder agogisch sanft verfeinerte A-cappella-Passagen einzelner Stimmen hinein. Auch die häufigen, manchmal plötzlichen harmonischen Wechsel mit nicht ganz einfachen Modulationen machten weder dem Chor noch dem Orchester Intonationsprobleme, obwohl der weitgehende Verzicht auf Vibrato – übrigens auch bei den Solisten – die Reinheit nicht leichter macht. Wie gut alles rhythmisch abgestimmt war ließ sich auch an den vielen Passagen ablesen, in denen Dvořák stimmen im Gleichklang („colla parte“) führt, was kein Mangel an Einfällen, sondern ein Mittel der Verstärkung oder Verdichtung ist, wie auf gegenteilige Art, die Engführung der charakteristischen und über das ganze Stück hinweg immer wieder verwandtschaftlich verbundenen Themen und Motive.
Das leise Ende zeigte noch einmal, womit der BachChor vielleicht den größten Eindruck machte: Zu welch zarter Tongebung ein so riesiges, fast monumentales Ensemble in der Lage ist. Nach diesem sanften Schluss ereignete sich Seltsames: Die paar notorischen Losklatscher verstummten wieder und gaben Raum für eine lange Stille, die gerade einem Werk von fast trostloser Traurigkeit wie dem „Stabat Mater“ angemessen ist. Aber nach dieser schönen Pause dürfte in der nicht ganz ausverkauften Stiftskirche ein respektvoller Jubel ausbrechen.
(Titelfoto: BachChor; später mehr Bilder und Links)
