Ariane Matiakh widmete sich mit der Württembergischen Philharmonie Werken jenseits des musikalischen Mainstreams
REUTLINGEN. Mit Entdeckerfreude an die Ränder des Repertoires zu gehen, zeichnet ein Orchester und seine Leitung auch aus. Aber es kostet Zuspruch. Zum fünften Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie am Montagabend waren die Plätze in der Reutlinger Stadthalle doch ein wenig lockerer besetzt als sonst. Um so frenetischer feierten die Besucher das zentrale Werk des Abends: Alexander Zemlinskys vor genau hundert Jahren entstandene Lyrische Sinfonie in sieben Gesängen mit den Vokalsolisten Julia Maria Dan und Kostas Smorginas.
Als besonderes Verdienst von Dirigentin Ariane Matiakh darf auch gelten, wenigstens mit einem kleinen Werk, der Ouvertüre in C, einer dreisätzigen Sinfonia, die mittlerweile vernachlässigte Wiener Rokoko-Komponistin Marianna Martines (1744 bis 1812) wieder ins Licht gerückt zu haben. Diesem funkelnden Appetithappen folgte die große Pariser Sinfonie Nr. 82 C-Dur ihres Lehrers Joseph Haydn (1732 bis 1807), die den Beinamen „Der Bär“ bekam, beim Publikum aber – völlig zu Unrecht, muss man leider sagen – auch nicht mehr als Zugpferd gelten kann.
Der erstaunliche Tonfall von Marianna Martines liegt irgendwo zwischen dem raketenhaften Schwung der Mannheimer Schule um die Stamitz-Familie und der federleichten Eleganz eines Mozart, der gleichfalls die Schlichtheit von Skalen und Sequenzen kein bisschen verabscheute, klare Strukturen schätzte, und ähnlich gern Kontraste von „männlicher“ Kraft und „weiblicher“ Zartheit einander gegenüberstellte. Als kleinen Abstrich an dieser hinreißend frisch musizierten Ouvertüre mag man anmerken, dass die Bläser nicht allzu heftige Anstrengungen unternahmen, aus dem Schatten ihrer zugewiesenen Nebenrolle stärker ins Licht zu treten, obwohl es oft scheinen mochte, als wolle sie Ariane Matiakh genau dahin locken.
Joseph Haydn hatte nicht nur im heimischen Wien, nicht nur in London, sondern auch in Paris riesige Erfolge, wo ihm die größten Orchester seiner Zeit zu Verfügung standen. Die Sinfonie C-Dur ist der Höhepunkt eines dort entstandenen sechsteiligen Zyklus, in dem Haydn alle Finessen und formalen Innovationen seines reifen Stils vorführt – etwa das, was später den Namen Sonatenhauptsatzform bekam, oder die Exposition eines kraftvollen (hier fanfarenhaft aufsteigenden) ersten Themas und eines lyrischen zweiten als motivische Kerne einer Durchführung.
Nicht nur die brummenden Bordunbässe des Finalsatzes, die der Sinfonie ihren Beinamen „Bär“ gaben, sondern vor allem die repetierten Vorschläge können als kleinste Kerne organisch entwickelter thematisch-motivischer Arbeit gelten. Der englische Dudelsack-Charakter der Orgelpunkte oder die später als südslawisch identifizierte Hauptmelodie sind Beispiele für Haydns Genie, das sich sein musikalisches Material wie ein Schwamm aufsog. Ariane Matiakh verwob das mit Temperament, Esprit und einer hohen Aufmerksamkeit für alle Details in allen Orchestergruppen zu dem, was die Franzosen „Clarté“ nennen.
Man darf diese Lyrische Sinfonie, ein Hauptwerk des in 1871 in Wien geborenen und 1942 im amerikanischen Exil gestorbenen Alexander Zemlinsky, durchaus vor dem Hintergrund der prägenden Beziehung zur erotischen Urgewalt der Alma Schindler sehen, die später auch auf Mahler, Kokoschka, Gropius und Werfel wirkte, vielleicht tatsächlich auch im Sinne eine Muse, die Schöpferkraft freizusetzen vermag.
„Lyrisch“ ist diese Sinfonie nicht als Verkörperung einer sanften Atmosphäre, sondern wegen der damals aufsehenerregenden Gedichte des bengalischen Nobelpreisträgers Tagore, die Textgrundlage für ein gewaltiges Panoptikum aller Aspekte von Liebe sind, samt Lust und Leidenschaft, Verlust und Eifersucht.
Das Streben nach Transparenz, das den Stil von Ariane Matiakh auch auszeichnet, kommt schon im Prolog an Grenzen durch die schiere – vorgeschriebene – Gewalt des Klangs, bei der sich empfindsamere Ohren durchaus eine Art eingebaute Abregelung wie beim Motor eines PS-Boliden wünschen könnten. Die Strukturen dieser ständig das Tonale transzendierenden Musik gehen oft schlicht unter in diesen Tsunamis von Fortissimo.
Der fast traditionell basshaft ins Brustregister gefärbte Bariton von Kostas Smorginas musste an dieser Wand oft bei seinem Bemühen abprallen, die Texte akustisch verstehbar zu machen. Weil die Beleuchtung im Saal ein Mitlesen verhinderte, hätte man sich manchmal die Worte als laufende Leuchtschrift im Hintergrund vorstellen können. Ganz großartig in ihrer Kraft und Klarheit war die rumänische Sopranistin Iulia Maria Dan, der die Partitur aber auch weniger wuchtige, leisere, eben „lyrischere“ Passagen zugedacht hatte.
Das Publikum feierte aber auch diese ungeheure Wucht des Klangs, feierte die Solisten und die Dirigentin, die wiederum den einzelnen Gruppen und solistisch hervorgetretenen Instrumenten (dazu zählten auch Harfe, Harmonium, Celesta, Piccoloflöte natürlich, Englischhorn oder das ganze Schlagzeug-Arsenal bis zu Gong und großer Trommel, nicht zu vergessen die verfremdenden Dämpfer selbst bei der Tuba) mit sichtlicher Dankbarkeit für ihren Einsatz applaudierte. Ein schöner Zug.