Kino

„September 5“ – Diese Blicke

In der Tübinger „Blauen Brücke“ und in der Reutlinger „Planie“ läuft Tim Fehlbaums fesselnder Thriller über das Olympia-Massaker von München 1972

TÜBINGEN/REUTLINGEN. Einen Oscar für die beste Nebenrolle hätte das schon verdient, was Leonie Benesch in „September 5“ abliefert, Tim Fehlbaums Journalisten-Thriller über das palästinensische Attentat auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen von München 1972, die „heitere Spiele“ hätten werden sollen: Diese Blicke, dieses Mienenspiel in den Augen und im Gesicht jener (erfundenen) Marianne Gebhardt, der deutschen Dolmetscherin und Kontaktfrau für das amerikanische Fernsehteam der ABC, das zeigt mit unglaublicher Intensität und Ausdruckskraft, was Filmkunst kann. Dabei hat ihr grandioses Spiel ein Understatement, das der Rolle in diesem Drama entspricht.

Steven Spielberg hat den Stoff verfilmt, mit allem, was er aufzubieten hat. Aber „Munich“ ist nicht sein stärkstes Werk. Dann gibt es den von Dror Zahavi 2012 mit wenig Aufwand inszenierten, aber in seiner hohen historischen Präzision herausragenden deutschen Film „München ’72 – Das Attentat“. Und jetzt hat der junge Schweizer Regisseur einen ganz eigenwilligen, geradezu genialen Zugang gewählt: Tim Fehlbaum schildert die Geschehnisse – sie sind halbdokumentarisch eigentlich meist nur im Hintergrund auf flimmernden Fernsehschirmen zu sehen – ganz aus der Sicht und im Setting eines amerikanischen TV-Teams, in dem der Sportjournalist Geoffrey Mason (John Magaro) und seine taffe Dolmetscherin so weit über sich hinauswachsen – aber auch so schmerzhaft an die Grenzen des Journalismus stoßen.

Fehlbaum inszeniert nicht nur seine herausragenden Schauspieler John Magaro und vor allem Leonie Benesch ganz großartig, er verfügt mit Ben Chaplin als Masons Vorgesetztem und Peter Sarsgaard als Reporterlegende über zwei weitere große Mimennamen an der Spitze eines bis in alle Nebenrollen ausgezeichnet besetzten Teams. Markus Förderer führt seine Kamera je nach Situation mit atemberaubend leisen und endlos langen Naheinstellungen oder mit turbulenten Schwenks aus dem Chaos der rasenden Reporter vor Ort heraus – bei meist düsterem Licht in der beklemmend engen Atmosphäre des ABC-Studios. Der Schnitt von Hansjörg Weißbrich dient der kontraststarken Dramaturgie präzise.

Einziger Schwachpunkt: Das Zeitgefühl, für diese zwanzig Stunden Horror und den dramaturgischem Bogen, für das Tempo so wichtig, kommt nicht ausgewogen beim Zuschauer an. Da hätte die cineastische Notlösung von Zwischentiteln oder Zeit-Einblendungen womöglich abhelfen können.

„The Day Terror Went Live“ heißt der Untertitel, der einen der journalistischen Hauptkonflikte beschreibt: Was dürfen Kameras zeigen? Wo wird man unfreiwillig Unterstützer, ja Mittäter (auch Gladbeck blitzt da auf)? Was darf man Leidenden, Gedemütigten, ihren bangenden Angehörigen, was der Weltöffentlichkeit an Ohnmacht, an Todesangst und Grausamkeit, an Terror und Täter-Zynismus zumuten? Wie weit geht die Chronistenpflicht? „Zeigen, was ist“, um Augsteins knappes Dogma abzuwandeln?

Neben der dilettantischen Unfähigkeit der deutschen Behörden war der Höhepunkt dieser 20 Stunden Terror auch das fatale Ende mit seinem apopkalyptisch beleuchteten Schrecken auf dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck, ein Finale, ein Showdown, der von Agenturjournalisten und bis hin zum Regierungssprecher zunächst als geglückte Geiselbefreiung verkauft wurde, um wenig später – zwei israelische Sportler waren schon im Morgengrauen ermordet worden – den Tod aller neun verbliebenen Geiseln sowie eines deutschen Polizisten (und von fünf der acht Attentäter des „Schwarzen September“) verkünden zu müssen.

In einer späten Szene ringen die Journalisten um einen eisernen Grundsatz: im Zweifel immer zwei voneinander unabhängige Quellen. Auch für den Journalismus war die mitternächtliche Reuters-Falschmeldung über einen glücklichen Ausgang der Tragödie eine seiner dunkelsten Stunden.

Aber zum Filmischen: Am faszinierendsten ist, wie Gesicht und Blicke von Leonie Benesch das unaufdringlich eindringlich kommentieren: das Entsetzen, die Fassungslosigkeit über die Grausamkeit der Geschehens, das bei aller Coolness so empfindsam intaktgebliebene Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen; das kühle und kühne Selbstbewusstsein über die eigene Professionalität, die Reaktionsschnelligkeit und analytische Klarheit dieser Hilfs-Journalistin, ihre eiserne Selbstdisziplin; und schließlich auch den Zorn und die sprachlose Scham der jungen Deutschen über das unfassbare Versagen der eigenen Behörden und des eigenen Landes ausgerechnet gegenüber Israelis, keine 30 Jahre nach der Shoah, der fast vollbrachten Vernichtung aller europäischen Juden.

Nachsatz: Die Deutschen überschätzen bei Filmfestivals (oder beim ESC) ja fast immer ihre eigenen Kandidaten; vielleicht auch diesmal diesen ganzen, schon wirklich großartigen Film, der eine deutsch-amerikanische Koproduktion ist (neben dem Reitz-Clan ist auch ein Sean Penn dabei). Aber Leonie Benesch („Das Lehrerzimmer“) hätte wirklich – gerade nach den strengen amerikanischen Kriterien und klaren Oscar-Anforderungen an Filmkunst und cineastisches Handwerk, und eben nicht einfach an irgendeine saubere Moral oder eine tolle Message – einen solchen Oscar verdient.

Vielleicht wird sie ja entdeckt von der Jury. Die ist von echten Fachleuten trotz der üblichen US-Schlagseite meist bestens gebrieft. Und vielleicht darf sie dann als ein neues Aushängeschild des deutschen Films an die Seite der ebenso großartigen Sandra Hüller treten. Auch Tim Fehlbaum, in München geschult, wäre für seine fantastische Regie-Leistung jede hohe Ehre und Ehrung zu gönnen.

Nachsatz 2: PLO-Chef Jassir Arafat, späterer Friedensnobelpreisträger, hat dem barbarischen Terrorakt seinerzeit seinen Segen gegeben: „Allah schütze euch!“, soll er dem Drahtzieher Abu Daoud nach dessen eigener Schilderung gesagt haben, der heutige Palästinenserpräsident Mahmud Abbas finanzierte die Aktion. Deutsche Neonazis – echte Neonazis – besorgten dem Terror-Oktett neben Falschpässen und Fahrzeugen die Waffen: Handgranaten und Kalaschnikows. Beides darf als gesichert gelten. Ganz sicher ist, dass die fünf toten Terroristen ein Heldenbegräbnis in Libyen bekamen, die drei überlebenden Terroristen noch im selben Jahr mittels Flugzeugentführung freigepresst wurden. Von „Caesarea“, der Racheaktion des israelischen Mossad, handelt Spielbergs „Munich“-Film in seiner zweiten Hälfte.

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