Kinder – Vielfache Premiere mit „Wolkenrotz“ am Tübinger Jungen Theater
TÜBINGEN. Kindertheater ist für Kinder. Erwachsene müssen das nicht kapieren. In der ausverkauften Tübinger LTT-Werkstatt hatte am Freitag nicht nur das Stück „Wolkenrotz“ von Vera Schindler seine Uraufführung. Mit ihrer ersten Inszenierung stellte sich auch Monika Kosik als neue Chefin des Jungen LTT dem Publikum vor. Es war die ästhetisch grandiose Inszenierung eines eigenartigen Textes, die von den Premieren-Erwachsenen in den hinteren drei Reihen zu Recht gefeiert, vom Publikum aus Grundschulen aber auch eifrig beklatscht wurde.
Die Geschichte ist surreal, sehr wortreich und sehr poetisch, doch für Kinder vielleicht ein bisschen überladen an Strängen und Phantasmagorien. Das von den Schauspielerinnen Lena Steinhuber, Lorraine Töpfer und Clara Schulze-Wegener dargestellte Mädchen-Trio hat wenig fürsorgliche Mütter und Väter und ist vielleicht gerade deshalb vor allem kreativ: Kenny zeichnet unablässig und virtuos, Bente dichtet wort- und klangverspielt, und die besonders einsame Layla beherrscht die japanische Papierfaltkunst des Origami. In die Schule gehen sie alle nicht besonders gern. Einmal fällt die Mathestunde aus, weil die unbeliebte Lehrerin in der Rutsche bei McDonald’s stecken geblieben ist.
Die unaufhaltbare behördliche Papierflut wird umgenutzt zum Aufschichten des größten Hochhauses der Welt, eines babylonischen Turmbaus, der vom Satelliten aus erkennbar, aber aus diesem Stoff erbaut natürlich nicht wetterfest ist, obwohl er einem ersten Hagel noch widerstehen kann. Der titelgebende „Wolkenrotz“, ein Unwetter mit Blitz, Donner und Doria, zwingt die drei Mädchen zur Flucht vom Hausdach im Cockpit eines Papierfliegers in das angebotene Asyl des weißgewandeten Kiosk- und Hundebesitzers Fatima, der sie mit weißem Tuch und weißer Papiersäge beschützt und am Schluss mit dem Flieger ans Meer reisen darf.
Immer wieder hatte ein düster geschminkter Man in Black als Unheilsbote im schwarzen Fledermaus-Frack herumgegeistert und die bald eng verschworenen Freundinnen bis in ihre Träume hinein geängstigt (Michael Mayer spielt die zwei allegorischen Schwarz-Weiß-Rollen). Aber auch das Aufstehen am Morgen und das Hetzen zum Schulbus sind ihnen ein Horror. Kenny und Bente hatten als Detektiv-Duo mit französischem Akzent herausgebracht, warum Layla so einsam sein will: aus Trotz, denn die Eltern hatten sich nur noch um ihren kranken Bruder gekümmert.
Schon die unbespielte Bühne aber ist wunderbar: drei weiße, in der Höhe gestaffelte Quader, bereit zum Beleuchten, Bemalen und Bekritzeln mit Filzer und umgeben von viel reinweißem Tuch und etwas Nebel. Das sich der Reihe vorstellende und begegnende Trio tritt in farbstarkem Blau, Neongrün und Pink auf. Im Hintergrund kann ein Zeichentrickfilm ablaufen, können Stimmen aus dem Off sprechen und sphärische bis wild rappende Musik erklingen, zu der auch getanzt werden kann.
Schwer zu sagen, ob der frenetische Beifall der Erwachsenen auch dem Gefallen der Kinder (ab 8 Jahren) entsprach. Bei aller faszinierenden Bildlichkeit der Inszenierung war das Stück für Kinder vielleicht etwas zu handlungsarm und zu wortreich an Beschreibungen von vielen Handlungs- und Bedeutungsstränge, auch an reflektierendem Sinnieren. Möglich, dass neben den – jede auf ihre Weise und gleichermaßen zur Identifikation taugenden – drei Freundinnen die Sorgen und Probleme, auch die Freuden und Wünsche, die Feinde und Gegner, die Freunde und Helfer zu wenig klare Kontur für kindliche Empathie hatten. Steilste Fantasien und logische Sprünge machen Kindern kein Kopfzerbrechen.