Musik

Pierre Boulez – Einem Großen

In den Reutlinger Wandel-Hallen widmete sich Michael Wendeberg zu dessen Hundertstem dem französischen Avantgardisten

REUTLINGEN/TÜBINGEN. Die Zusammenarbeit der Nachbarstädte Tübingen und Reutlingen als „Kulturregion“ schreitet voran: Diesen Herbst veranstalteten die Tübinger „Contemporary Concerts“ und die Reutlinger „musica nova“ gemeinsam zwei Konzerte zu Ehren von Pierre Boulez (1925 bis 2016) , einem berühmten Vorreiter der Avantgarde, der nunmehr 100 Jahre alt geworden wäre.

Das erste Konzert fand am 11. Oktober in der Tübinger „Westspitze“ statt; da präsentierten die Pianisten Nicolas Hodges und Michael Wendeberg vierhändige Klavierwerke von Boulez, darunter dessen „Structures I“ und „Structures II“ . Und dies – wie zu erfahren war – in hervorragender Qualität. Dass weder die regionale Presse noch wir darüber berichtet haben, liegt daran, dass sich an diesem Abend die Konzerte häuften und andere vorgezogen werden mussten.

Offenbar wurden Boulez‘ „Douze Notations“ (1945) sowohl in Tübingen als auch in Reutlingen aufgeführt. Sie stehen nun als Bindeglied am Beginn des gut besuchten zweiten, „Reutlinger“ Teils der Hommage an Pierre Boulez; diesmal im Kunstmuseum | konkret, das derzeit die Gruppenausstellung „Falscher Marmor und glühende Sterne – Carrara mit Gastini, Spagnulo, Zorio“ zeigt. Sie verwirklicht eine Verbindung von Emotion und Rationalität, die auch Michael Wendeberg zu Gebote steht.

Vielleicht verfügt er über einen besonderen Zugang zu Boulez, nachdem er in den Jahren 2000 bis 2005 als Pianist des „Ensemble intercontemporain“ eng mit ihm zusammengearbeitet hat. Jedenfalls nimmt er mit seiner Werkfolge Rücksicht auf dessen kritische Einschätzung: Zwei in Boulez‘ Augen schwächere Jugendwerke sowie ein paar Fragmente lässt Wendeberg weg, die Überschrift „Das Klavierwerk“ trifft nur bedingt zu.

Es bleiben die „Notations“ aus dem Jahr 1945 sowie die drei „Sonaten“ aus den Jahren 1946, 1947/48 und 1955 bis 1957, gefolgt von „Incises“ (1994/2001) und „Une page d’éphéméride“ (2005). Vorbereitet werden die Stücke durch Gespräche zwischen dem musica-nova-Leiter Michael Hagemann und dem Pianisten, die das Publikum mit offenen Fragen und witzigen Antworten auf die Herausforderung einstimmen. Ihr Rat: „Einfach locker bleiben!“

Michael Wendeberg mit Moderator Michael Hagemann. Fotos: Susanne Eckstein

Das ist leicht gesagt angesichts der auf serieller Basis entwickelten, hochkomplexen Klangsprache. Der junge Boulez hat, vereinfacht gesagt, das vertraute Kontinuum aus Melodie, Harmonie und Rhythmus in kleine Stücke zerschlagen und diese unter Anwendung der Zwölftontechnik neu sortiert, ohne Wiederholung, ohne Konsonanz, gern in abrupten Sprüngen. Doch immer noch verwendet er den „normalen“, unverfremdeten Klang des Klaviers.

Dabei bekommt fast jede Note eigene Vortragsanweisungen – für den Pianisten eine extreme Herausforderung. Wie Michael Wendeberg am Steinway diesen Zeichenverhau so sicher wie ausdrucksvoll umsetzt und beherrscht, ist sensationell. Im Spagat zwischen peniblem Gehorsam und nachvollziehendem Gestalten schlägt er Boulez‘ Klangsplitter dem Hörer in provozierender Akribie um die Ohren, eine unbändige Energie entlädt sich in extremen Dynamik-Wechseln und hochdifferenzierten Rhythmen, Komponist und Interpret arbeiten Hand in Hand.

Die zwölf „Notations“ erscheinen als explosive Ausdruckskunst im traditionellen Rahmen der Charakterstücke, hoch verdichtet auf je zwölf Takte. Schrill, wild und ungebärdig zeigen sich Boulez und sein Interpret in der ersten Sonate, in der zweiten bewahrt und zerstört der junge Avantgardist die Sonatenform, und in der dritten darf der Pianist die übergeordnete Form selbst bestimmen, indem er vorgegebene Abschnitte auf einer Art Noten-Landkarte neu kombiniert.

Eine stilistische Entwicklung wird nach dem Sprung zum Spätwerk hörbar. Die „Incises“ wirken weniger disparat, Wendeberg hat mehr Raum zum Gestalten, er macht Strukturen und Abgründe erkennbar. „Une page d’éphéméride“ (ein astronomisches Beobachtungsblatt) erweist sich als vergleichsweise gut anhörbares Stück mit Klängen wie Kometen: Scharf angeschlagen, blitzen sie auf und ziehen einen feinen Schweif hinter sich her, Repetitionen und Pulsationen kontrastieren mit fernem Leuchten.

Nach jedem Stück brandet begeisterter Beifall auf, auch der Jubel am Ende ruft nach einer Zugabe. Doch nach dem über zweistündigen Kraftakt verzichtet man gerne darauf.

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