Das 21. Internationale Pianistenfestival Tübingen beginnt mit Raffaele D´Angelo und Nicolas Bourdoncle
TÜBINGEN. Das Internationale Pianistenfestival findet seit 2002 Anfang Mai an zwei Abenden im Festsaal der Neuen Aula statt. Unter einem jährlich wechselnden Motto zeigen jeweils vier Nachwuchskünstler aus verschiedenen Ländern ihr Können“, heißt es im Informationstext der Veranstalter, dem Kulturreferat der Universität, der Museumsgesellschaft und der Stadt Tübingen.
Auf das Motto wurde irgendwann verzichtet, doch erneut gastieren 2025 vier Pianisten verschiedener Herkunft an zwei Abenden in der Neuen Aula; am ersten Abend Raffaele D´Angelo und Nicolas Bourdoncle, am zweiten Sofia Vasheruk und Lambis Vassiliadis. Das Programm gleicht dem des Vorjahrs: Sowohl Bach/Busoni als auch Chopins 24 Préludes op. 28 und ein später Schubert waren schon 2024 hier zu hören. Der Festsaal ist mittelmäßig besetzt.
Der erste Pianist kommt aus Italien: Raffaele D´Angelo, offenbar ein vielseitiger Selfmademan aus Potenza ohne familiäre Unterstützung und spezielle Förderung; er war unter anderem Schüler von Marco Schiavo, der schon in Tübingen aufgetreten ist; über Wettbewerbe oder Auszeichnungen schweigt sich die Vita aus.
Dem Bechstein-Flügelim Festsaal nähert er sich ausgesprochen behutsam. Wusste er, dass das Instrument ihm widerstrebt? Das Choralvorspiel „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ von Bach/Busoni interpretiert er mit sensiblem Anschlag als sanftes Gebet, doch der Klang lässt zu wünschen übrig. Ähnlich die späte Klaviersonate Nr. 30 op. 109 von Beethoven: Ihr fehlt es zwar nicht an Stimmungen und Farben, aber an Klarheit, Spannung und Struktur, entsprechend matt fällt der Beifall des Publikums aus. Dabei beherrscht Raffaele D´Angelo alles komplett auswendig, auch die drei Klavierstücke D 946 aus Schuberts letztem Lebensjahr.

Darin unterlaufen dem jungen Pianisten Passagen, die so nicht in den Noten stehen, doch er beweist festen Zugriff und ein sicheres Gespür für Schuberts Gegenspiel von Dramatik und lyrischer Gegenwelt. Diese lässt er in Nr. 2 so zauberhaft leuchten, dass danach absolute Stille im Saal herrscht – nur einer wagt es zu klatschen und hört sofort damit auf. Für den herzlichen Schlussapplaus bedankt er sich mit Schuberts Moment musical f-Moll in einer ausgesprochen romantischen Deutung.
Offenbar ist es dem Tübinger Bechstein-Flügel nicht egal, wer ihn spielt. Als nach der Pause Nicolas Bourdoncle in seine Tasten greift, staunt man über den durchweg edlen Ton, den er dem Instrument entlockt. Und wenn man seinen Lebenslauf verfolgt, sieht man, dass der junge Mann aus Aix-en-Provence offenbar intensiv gefördert wurde. Sein Programm ist ein selbstbewusstes Statement: Es besteht ausschließlich aus Musik von Frédéric Chopin, ebenfalls komplett auswendig vorgetragen; man hat Gelegenheit, tief in Chopins Welt einzutauchen.

Zunächst in die „Essenz romantischer Klavierkunst“, das Nocturne Nr. 2 E-Dur op. 62. Hier erkennt man, dass Nicolas Bourdoncle dem üblichen „Romantisieren“ mit einem betont sachlichen Ansatz entgegentritt. Es geht nicht um Träumerei, sondern um Auseinandersetzung; es wird zielbewusst strukturiert statt gefühlig zerdehnt, nur der Klang wird schattiert. Ebenso im Scherzo Nr. 3 cis-Moll op. 39, das zur vollgriffigen Klangzauberei mit silbern glitzerndem Diskant wird.
Den Hauptteil des Programms nehmen Chopins 24 Préludes op. 28 ein. Um es gleich vorwegzunehmen: Nicolas Bourdoncle betritt mit seiner Gesamtspieldauer von 36 Minuten das Siegertreppchen der „sportlichen“ Chopin-Spieler. Er beherrscht sämtliche Teile aus dem effeff, ob schlichtes Largo oder hochvirtuoses Agitato, gestaltet sie ihrem Charakter entsprechend und lässt sie fast nahtlos aufeinanderfolgen.

Auch hier verweigert er sich dem romantischen Dehnen, sondern strafft und gliedert; das beliebte „Regentropfen-Prélude“ geht eher kühl über die Bühne. Trotz des erhöhten Tempos und der extremen virtuosen Anforderungen öffnet er klanglich eine Schatztruhe: Unter seinen Händen werden die Stücke zu zartem Filigran, gediegenem Gold und exquisitem Perlengeschmeide. Dem temperamentvollen Schluss mit dem dreimaligen tiefen d in der Kontraoktave antwortet spontaner Jubel im Saal; erst nach zwei Zugaben, ebenfalls von Chopin, lässt das Publikum den Künstler ziehen.
