Musik

Friedensoratorium – Ergreifende Größe

Frank Schlichters Semiseria und zwei Partnerchöre führten Helge Burggrabes Opus magnum „Lux in tenebris“ in der Tübinger Stiftskirche auf

TÜBINGEN. Als Friedensoratorium hat der Komponist Helge Burggrabe sein monumentales Werk eher bescheiden eingeordnet. „Lux in tenebris“, 2015 für das Jubiläum des Bistums Hildesheim entstanden, führte Frank Schlichter mit seinem Chor Semiseria, dem Jugendchor St. Johannes aus Dettingen und dem befreundeten Konzertchor LGV Nürnberg, dazu mit Solisten sowie mit Instrumentalisten der Camerata viva am Sonntagabend in der sehr gut besetzten Tübinger Stiftskirche auf.

Semiseria , die Partnerchöre, Solisten und Instrumentalisten von der Empore aus. Foto: Martin Bernklau

Der Ort war nicht der einzige lokale Bezug für dieses geradezu gigantische Event. Denn der 1974 geborene und im niedersächsischen Künstlerort Fischerhude lebende Musiker und seine beiden Texter Angela Krumpen und womöglich auch der katholische Theologe Reinhard Göllner hatten das Friedensoratorium als Werk um Licht und Finsternis und Schöpfung, um Kain und Abel, um Zerstörung und Jüngstes Gericht auch an Tübingen und an das naheliegende Aufführungsdatum angepasst: Es ging auch um das Kriegsende in der Stadt und um den Kirchenmusiker und Wankheimer Pfarrer Richard Gölz, der als Teil eines schwäbischen Netzwerks mutiger evangelischer Pastoren Juden versteckt und gerettet hatte, Ende 1944 in der Stiftskirche von der Gestapo verhaftet und ins KZ Welzheim verschleppt wurde. Er und seine Frau Hildegard überlebten die Haft. Gölz begründete an der Seite von Walter Kiefner noch im Jahr 1945 die Tübinger Motette mit.

Aus leiser Percussion erhebt sich die Ouvertüre „Im Paradies“ zu einem vollen Klang, an dem neben den Chören, Blechbläsern, Streichern, viel Schlagwerk, Chor- und Hauptorgel als erster Vokalsolist (neben Sopranistin Judith Graf, Christine Mittermair, Alt, sowie Bariton Yevhen Petronelli und der als Schauspielerin bekannten Sprecherin Julia Jentsch) auch Tenor Michael Nowak beteiligt ist. Es ist eine so rhapsodisch gereihte wie blockartig geschichtete Klangwelt auf einen Text von Angela Krumpen, dessen Beginn „ich bin“ auf den alttestamentarischen Jahwe anspielt – und mit seinem bildmächtigen Pathos ein wenig das Problem des Riesenwerks anreißt.

Frank Schlichter dirigiert über volle zwei Stunden präzise und sehr engagiert. Foto: Martin Bernklau

Denn diese in ebenso wuchtige Bibelstellen eingebetteten Lyrismen sind nicht die einzigen Gedichttexte in den fünf Teilen des Werks. Auch Rainer Maria Rilke, Rose Ausländer, Hilde Domin, auch Meister Eckart und Paul Celan sind vertreten. Doch gegenüber deren Dichtung fallen Angela Krumpens Worte zwar keineswegs an Pathos, dafür aber doch ein wenig an Qualität ab: Sie neigen immer wieder zum Dröhnen, zu vermeintlicher Tiefe, zum Kitsch. So, wie das ganze Libretto mit seiner symbolhaft biblischen Wucht und Wortgewalt in seinen Mitteln doch viel zu oft über die vollen zwei Stunden – ja: übertreibt.

Auch musikalisch wird weit mehr aufgeboten als nur ein erweiterter Klang von ganz ausgezeichnet vorbereiteten Sängern und Musikern, für deren Einstudierung neben Frank Schlichter sein Studienfreund Tarmo Vaask sowie Diana Walz gesorgt hatten. Die Vokalgruppen sind nicht nur auf dem riesigen Podest postiert, sondern bringen dialogische Effekte mit ein – als Männergruppe auf der Orgelempore neben Manfred Maier-Appel am Spieltisch, als Favoritchor mit den Jugendstimmen auf dem Lettner, verteilt und zeitweise nach irgendeiner Choreografie umherwandelnd im ganzen Kirchenschiff, in ausgefeilten räumlich-thematischen und eben spirituell gedachten Bezügen.

Die aufwendige Inszenierung ergänzte eine relativ zurückhaltende Lichtdramaturgie von Holger Herzog. Auch das ein kleines Manko: Die abgedunkelten Hörerreihen erlaubten die Lektüre des Textes, der vor allem in den komplexeren Arrangements nicht immer verständlich sein konnte, fast überhaupt nicht. Aufschlussreich und verstehbar waren allerdings die spezifischen Prosapassagen zum halbwegs glimpflichen Kriegsende in Tübingen (eine Luftmine beschädigte etwa Dach und Fenster der Stiftskirche schwer) sowie zum bewundernswert mutigen Wirken des Wankheimer Pfarr-Ehepaars Hildegard und Richard Gölz, der übrigens seit den Dreißigern als Gesangbuchautor schon weithin bekannt war.

Die Tonsprache von Helge Burggrebe erweitert die vokalen Klangmittel bis ins Sprechen, Flüstern und Summen, vor allem die Effekte und abwechslungsvollen Rhythmisierungen der drei Percussionisten von Röhrenglocken bis hin zum Geräusch, die Techniken der traditionellen Instrumente bis in Glissandi, bleibt aber bei gewissen dissonanten Anschärfungen und Clustern doch weitgehend tonal gebunden und homophon. An Frank Schlichters Studien und Neigungen gemessen fehlten diesem Klang doch ein wenig die Elemente aus Jazz oder Pop.

Satztechnisch gibt es hin und wieder Sequenzen, auch Echos und anderes an Dialogischem, doch eigentlich keine polyphone Mehrstimmigkeit über Fugato-Ansätze hinaus. Die Melodik darf hin und wieder in schönen Kantilenen in allen Stimmen und Instrumenten erblühen, kommt aber selten zu einer gewissen Einprägsamkeit, auch weil sie als Themen kaum je „durchgeführt“ werden. Das hängt auch damit zusammen, dass die textlich vorgegebenen Affekte eine doch sehr überschaubare gravitätische Einheitlichkeit haben, sich weder als Charakter noch als Konflikt entwickeln und entfalten können.

Bei aller Zugänglichkeit und Effekt-Vielfalt hat diese Musik doch etwas allzu gleichförmig Gewichtiges und Pathetisches, mit viel Latein und Griechisch neben all dem deutschen Dichterischen vielleicht auf Dauer auch etwas Ermüdendes. Zum Ende hin, das im Verklingen, Verstummen, Verglühen solistisch geprägt war, während die zahllosen Choristen herabmarschierten, um sich zu einer das Kirchenschiff umfassenden Riesenreihe zu formieren, waren Burggrabes Stil und Tonsprache fast vertraut und wären vielleicht sogar wiedererkennbar geworden.

Das Publikum wirkte von der mächtigen Größe dieses erweiterten Klangevents – natürlich auch des tiefernsten Themas wegen – sehr ergriffen und applaudierte gleich nach dem Schlusston jubelnd und mit langen stehenden Ovationen.

Jubel und stehende Ovationen für Helge Burggrabes „Lux in Tenebris“, die Chöre, Solisten und Instrumentalisten.
Fotos: Martin Bernklau
Auch im Chor nahm man die Ovationen dankbar entgegen und applaudierte
seinerseits dem Komponisten, den Leitern, der Camerata viva und den Solisten

stürmisch. Foto: Martin Bernklau

Das Monumentalwerk wird am 30. Mai zum Deutschen Chorfest in Nürnberg ein weiteres Mal aufgeführt, wobei dann der estnische Co-Dirigent Tarmo Vaask die Leitung übernimmt.

1 Comment

1 Comments

  1. Thomas Klingseis

    13.05.2025 09:30 at 09:30

    Hallo Martin,
    als Mitsänger (Tenor) kann ich Deine Kritik vollständig teilen! Sehr gute, sehr fundierte Kritik! Danke!
    Aber … natürlich nie ohne kleines, hier winzig kleines, fast pingeliges, aber vielleicht nicht ganz unwichtiges Aber: Besonders emotional gerührt war ich eben gerade auch von der langen (noch ein Aber: vielleicht doch sogar etwas zu kurzen) Pause zwischen dem wunderbar ins irgendwo auch Ungewissheiten zulassendem Pianissimo (Lux vs. Tenebris) abklingendem Werk und dem sich zu Standing Ovations aufbrausendem Applaus.
    Wie wird das wohl in Nürnberg!

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