Musik

Orgelsommer – Im „Goldrausch“

Der Reutlinger Marienkantor und Organist Torsten Wille hat Charlie Chaplins Stummfilm neu vertont

REUTLINGEN. Eine Neuvertonung? Jawohl, der alte Stummfilm-Klassiker hat eine neue Filmmusik bekommen, komponiert und improvisiert durch Torsten Wille an der Orgel der Marienkirche Reutlingen. Wobei für den Zuhörer am Samstagabend die Grenze zwischen notierter und aus dem Stegreif gespielter Musik nicht zu hören war – der langjährige Marienkirchen-Kantor und Orgelsommer-Leiter ist dermaßen versiert in beidem (und in der Filmbegleitung), dass man das Ergebnis durchweg als künstlerische Einheit wahrnahm. Eingeleitet wurde die Filmvorführung durch einen Vorspann aus Orgelmusik rund um die Entstehungszeit von „Goldrausch“ vor 100 Jahren, ebenfalls gespielt von Torsten Wille.

Ein Standbild aus Charlie Chaplins Film. Repro: Susanne Eckstein

Mit dem umfangreichen Gesamtprogramm aus einer Stunde Orgelmusik mit Video-Übertragung und dem 82-minütigen Film hat er im Rahmen des Reutlinger Orgelsommers nicht nur an das 100-jährige Jubiläum von „Goldrausch“ erinnert, die Kirche mit einem großen Publikum gefüllt und – als Solo-Ausführender! – eine Mammutaufgabe gemeistert, sondern auch an seine vor zehn Jahren erfolgreich eingeführten Orgelnächte erinnert, die ab 2020 gestrichen und seither (aus Kostengründen) nicht wieder aufgenommen wurden. Damals waren lange, ideenreiche Programme mit Gastorganisten samt künstlerischer Illumination in unübertroffener Opulenz zu erleben, die vermutlich keiner der Beteiligten je vergessen wird.

Nun also eine „Stummfilm-Orgelnacht“ mit Vorprogramm. Dieses mischt Originalkompositionen und Bearbeitungen unterschiedlichster Genres und Qualität, farbig und kraftvoll eröffnet durch Torsten Wille mit dem Orgel-Arrangement des Finalsatzes aus der 9. Sinfonie („Aus der neuen Welt“) von Antonín Dvořák (1841 bis 1904), komponiert 1893, arrangiert durch den Konzertorganisten Edwin Lemare (1865 bis1934, vorgestellt beim ersten diesjährigen Orgelsommer-Abend). Danach darf man einen der ersten farbigen Komponisten der USA kennenlernen: Henry Thacker Burleigh (1866 bis 1949), „Vater des Spirituals“ und Assistent Dvořáks in New York, hier andächtig und schwungvoll vertreten mit „Sometimes I feel like a motherless child“ und „Didn’t my Lord deliver Daniel“.

Astor Piazzolla (1921 bis 1992) wird als „Kind der zwanziger Jahre“ eingereiht; sein „Libertango“ wirkt auf der großen Orgel etwas weichgezeichnet, ebenso die zwei Improvisationen über „‘S Wonderful“ und „Summertime“ von George Gershwin (1898 bis 1937) und der „Ragtime Dance“ von Scott Joplin (1868 bis 1917). Die Stücke leben vom präzisen Metrum und Rhythmus sowie von den Hämmerchen des Klaviers, im „Ragtime Dance“ sind sogar „Stomps“ mit dem Fuß vorgeschrieben – all dies geht der Orgel weitgehend ab. Da die Organistenfüße naturgemäß auf dem Orgelpedal liegen, werden die „Stomps“ hier durch Basstöne ersetzt.

Die aus derselben Zeit stammenden Originalkompositionen von Louis Vierne (1870 bis 1937) erscheinen danach wie aus einer anderen Welt: In „Clair de lune“ darf der Orgelklang endlich fließen, leuchten und durch weite Räume schweben. Doch die hochvirtuose Toccata erfordert eine andere Hörsituation, mehr Konzentration und weniger Ablenkung durch das Video vom Organisten am Spieltisch.

Torsten Wille am Spieltisch der Reutlinger Marienorgel – auf Videowand übertragen.
Foto: Susanne Eckstein

Die zwei vor dem Auditorium aufgebauten Leinwände sind für den Haupt-Act des Abends bestimmt: die Vorführung des Stummfilms „Goldrausch“ von Charlie Chaplin (1889 bis 1977) in einer Kopie der Internationalen Filmarchive von 1961, die wohl die Erstfassung von 1925 zeigt – leider mit gekürzter Bildhöhe, so dass hie und da die Köpfe fehlen. Die spätere Tonfilm-Fassung von 1942 mit einer neu komponierten Filmmusik wurde übrigens 2013 durch die WPR aufgeführt.

Der Kino-Klassiker von und mit Charlie Chaplin spricht auch nach hundert Jahren noch alle an. Es geht nicht nur um Klamauk, Gewalt und Gelächter, sondern um grundlegend Menschliches: Hoffnung, Not, Gefahr und letztlich den Kampf ums Glück. Die bewegten Bilder vorn auf der Leinwand werden von Torsten Wille aus der Ferne einfühlsam und synchron mit der passenden Musik unterlegt, wofür er keinen Laptop, sondern einen simplen Spiegel verwendet; sie ist stets tonal und ohne dissonante Überraschungen. Er findet einprägsame Themen und variiert sie, und er bedient sich gekonnt der Muster aus dem Fundus der Musikgeschichte: Seufzermotive, gedankenvolle Soli, dumpfe Bässe, quälende Akkorde, Kichern und Gackern oder eingängige Tänze, und erspart dem Ohr weitgehend die üblichen dramatischen Tremoli.

Aus Schwarzweißbild und Orgelton, aus dem Film von 1925 und Willes Neuvertonung wird ein spannungsreiches, farbiges Kontinuum, das die Zuschauer hineinzieht in eine eigene Welt, sie zu lebhaftem Applaus animiert und am Ende in bester Laune unter den Klängen einer jazzigen Zugabe („Versuch’s mal mit Gemütlichkeit“) in die Augustnacht 2025 entlässt.

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