Der junge Ausnahmepianist Robert Neumann trat in der Nürtinger Kreuzkirche auf
NÜRTINGEN. Er lebt und studiert in Berlin und hat vergangenes Jahr in New York nach zahllosen Auszeichnungen auch den ersten Preis beim Concert Artist Worldwide Debut bekommen. Nürtingen ist zwar Provinz, aber auch ein Stück seiner Heimat für Robert Neumann, den 23-jährigen Stuttgarter. Und mit der vollbesetzten Kreuzkirche hatte der Ausnahnmepianist am Montagabend auch einen Konzertsaal, der ihn sichtlich tief beeindruckte. Für die Wucht seines Klangs wirkte sie zuweilen allerdings fast zu klein.
Die drei Kurfürstensonaten (WoO 47) waren eine Art Werbegabe an den gemeinsamen Dienstherren, den Erzbischof und Kurfürsten zu Köln, bei denen der so ehrgeizige wie brutale und trunksüchtige Vater und der Lehrer Christian Gottlob Neefe ihren 13-jährigen Ludwig van Beethoven, vielleicht doch mehr „Wunderkind“ wie Mozart als gemeinhin angenommen, noch einmal zwei Jahre jünger machten.
Gerade die mittlere in f-Moll zeigt schon sehr viel Charakteristisches: einen großen Gestus in der langsamen Maestoso-Einleitung, das Aufbrausende dann in den Läufen, „männliche“ Hauptthemen in den Ecksätzen und die Kontraste dazu, im finalen Rondo sogar die Betonungen gegen den Takt, etwas jugendhaft Rebellisches, das Beethoven (1770 bis 1827) zeitlebens blieb.
Robert Neumann schärfte die Triller und Praller des Allegro assai an, ließ die Läufe zuweilen fast schon explodieren – da ist auch noch der damals so modische Ton der Mannheimer „Raketen“ herauszuhören – und wählte auch im Mittelsatz eine eher kantige Phrasierung, bei der ihm die Kontur noch wichtiger war als weiche Melodik. An der unerreichten Geläufigkeit und Kraft dieser Finger hätte auch der junge Beethoven mit seinem pianistischen Anspruch wohl seine helle Freude gehabt.
Statt der angekündigten „Pavane“ hob Robert Neumann die Sonatine in fis-Moll von Maurice Ravel (1875 bis 1937) ins Programm und erzählte ein wenig über deren Entstehung als Wettbewerbs-Beitrag für einen kurzen Kopfsatz, den Ravel dann als eigenwilliges Spiel mit alten Formen um ein Menuett und ein zauberhaftes „Animé“ ergänzte.
Ravels kristalline Klarheit, sein Faible für kühne Kontraste und der eigene Ton einer erweiterten impressionistischen Harmonik sind auch schon in diesem eher frühen Werk vollständig ausgeprägt und kommen dem strukturfreudigen Geist Robert Neumanns ebenso entgegen wie die pianistische Freude an glitzernden Höhen oder zartesten Passagen, die in einem atemstockenden Pianissimo verhallen.
Sehr schade, dass irgendwann ein Handy ausgerechnet mit Klaviertönen endlos lang störte. Der Künstler steckte das scheinbar unbeeindruckt gleichmütig weg, aber beim Publikum dürfte die Atmosphäre von konzentrierter Spannung stark gelitten haben.
Die „Sonate après un lecture du Dante – Fantasia quasi Sonata“ von Franz Liszt (1811 bis 1886), zweiteilig angelegt, beginnt mit dem Abstieg zur Hölle in teuflischen Tritonus-Schritten und versteigt sich dann in die Extreme höchster Verlassenheit, abgrundtiefer Trauer und krassesten Qualen. Auch wenn die Mauern manchmal in der donnernden sinfonischen Fülle zu bersten schienen: So kann, darf und muss Liszt klingen. Und in den leisen Passagen hätte man dann ein Papier fallen hören können.
Auch der großzügige Pedaleinsatz passt natürlich vollkommen. Nur ein Pianist mit der einzigartigen Anschlagsvielfalt und beherrschten Kraft Robert Neumanns kann sich das leisten: Nichts versinkt dabei im Nebel. Der Klangrausch ist vollkommen kontrolliert und behält in jedem Augenblick Kontur. Auch die rasenden Läufe dürfen so schnell gespielt werden, wenn sie Ton für Ton so klar phrasiert bleiben anstatt maschinenhaft runterzurattern. Grandios, auch wenn in diesem Donner die Grenzen der Akustik – die Kirche ist nicht besonders groß – geradezu gesprengt wurden.
Die Pause mit Bewirtung im Dachgeschoss ergänzte den Eindruck noch, über welchen großartigen Konzertsaal das kleine Nürtingen mit seiner Kreuzkirche verfügt. Für den zweiten Teil hatte sich Robert Neumann, der sein ganzes Riesenprogramm auswendig spielte, noch einen wahren Brocken vorgenommen: alle zwölf Etüden opus 25 von Frédéric Chopin (1810 bis 1849).
Sie heißen zwar Etüden, sind aber keineswegs – wie etwa bei Czerny oder gar Hanon – technische Übungen. Ja, sie sind nicht einmal nur brillante Zeugnisse, um bestimmte pianistische Probleme oder Kunstfertigkeiten samt ihren Lösungen vorzuführen, das ganze Können eben zu zeigen. Sie sind jede für sich musikalische Kostbarkeiten, Charakterstücke und auch in wunderbaren Farben leuchtende Stimmungsbilder, ob vulkanisch, verträumt, ein wenig leidend oder gar mal neckisch.
Die Melodien und wunderbar weit geschwungenen Bögen in feinster Agogik intensiviert, die atemberaubenden Läufe auch hier wieder von blitzender Klarheit, nie nähmaschinenhaft, sondern immer zu Gestalten phrasiert und oft noch verdichtet, wo eigentlich keine Steigerung mehr möglich scheint.
Es gab Bravorufe und stürmischen Beifall, manche standen auf. Robert Neumann, der dazu neigt, statt weiteren Ovationen schnell weiterzumachen, gab die vierte von Franz Liszts als „unspielbar“ geltenden „Études d’exécution transcendante“ zu, die den Titel „Mazeppa“ (nach Victor Hugos Pagengestalt und Todesreiter) trägt, dreiteilig, strophisch und in der Todestonart d-Moll angelegt ist. also wie jedes Werk des zwölfteiligen Zyklus eine Art programmatischen Subtext hat – tonmalend nicht nur in die Extreme von donnernder Wucht und zartestem Pianissimo. Gerade im melodischen Mittelteil zeigte der Pianist, wie sehr ihm auch betörend sanfte und leise Töne liegen.
Der Applaus steigerte sich nochmals, weshalb Robert Neumann „nach all dem unheiligen Getue“, wie er scherzte, etwas zugab, was dem einst sakralen Raum etwas gerechter werden sollte: die Toccata in e-Moll des jungen Johann Sebastian Bach, die er vollkommen ohne Pedal spielte. Die Toccata ist ja auch eine Art Etüdenform, später mit den Läufen durch die ganzen Tastaturen auch als Teststück für Orgeln beliebt, die in ihrer Vielteiligkeit – hier neben dem ornamental-festlichen Präludium, Doppelfugato, dem herzergreifenden Adagio und der Schlussfuge – alle dramaturgischen Freiheiten und größte Ausdrucksmöglichkeiten gibt.
Der Beifall hatte danach in der Stärke fast etwas feierlich Zurückhaltendes, hielt aber nichtsdestotrotz so lange an, dass dieser unglaubliche Musiker, gerade mal 23 Jahre jung, noch einmal am Steinway-Flügel Platz nahm und das fantastische Encore zelebrierte, das Alexander Siloti über Bachs Präludium h-Moll geschrieben hat. Mit dem Wort „genial“ soll man sparsam umgehen. Aber hier ist es angebracht. Und mit etwas Glück hat das kleine Nürtingen den Auftritt eines kommenden Weltstars erlebt. Ein überwältigendes Ereignis war das ganz sicher.