Musik

Marienvesper – Stiftskirche als Markusdom

Musiker von drei Hochschulen führten in der Tübinger Stiftskirchen-Motette Claudio Monteverdis sakrales Schlüsselwerk auf

TÜBINGEN. Claudio Monteverdis „Marienvesper“ ist ein Schlüsselwerk der Musikgeschichte, vielleicht sogar mehr noch als seine drei Jahre ältere Oper „L’Orfeo“, die den Epochenbruch von der Renaissance zum Barock markiert. Es ist ein Geschenk, dieses Wunderwerk in der erlesenen Klangkultur und exquisiten Aufführungspraxis dreier Musikhochschulen aus Trossingen, Rottenburg und Tübingen hören zu dürfen. In der Motette vom Samstagabend wurde die Tübinger Stiftskirche zum venezianischen Markusdom.

Drei Chöre, zwei historisierende Instrumental-Ensembles, und zwölf Vokalsolisten bei Monteverdis „Marienvesper“ in der Tübinger Motette. Fotos: Martin Bernklau

Die byzantinische Architektur und die Akustik von San Marco hatten schon vor Monteverdi die Musiker zu Doppel- und Mehrchörigkeit, Favoritgruppen oder besonderen Echoeffekten angeregt, den Flamen Adrian Willaert etwa, Onkel Andrea und Neffe Giovanni Gabrieli oder dessen Schüler Heinrich Schütz. Claudio Monteverdi (1567 bis 1643) wurde dort erst drei Jahre später zum Kapellmeister ernannt. Die „Marienvesper“ von 1610 könnte – ganz ähnlich wie Bachs Missa in h-Moll für den katholischen Dresdner Hof – als eine Art Bewerbungsstück des unzufriedenen Mantueser Hofmusicus gedacht gewesen sein. Umstritten ist, ob Monteverdi es als Einheit oder als breitgefächerte Zusammenstellung entworfen hat.

Man muss kurz voranschicken, worin Monteverdis musikalische Revolution bestand, die kein Umsturz war, sondern eine Erweiterung der bis dahin herrschenden, vom tridentinischen Konzil dogmatisierten Polyphonie, deren nach strengen kontrapunktischen Regeln geordnete Mehrstimmigkeit wiederum harmonisch auf den „Kirchentönen“ des gregorianischen Chorals fußte, Tonleitern mit den Halbtönen an unterschiedlichen Stellen und von unterschiedlichem Charakter.

Aus dem weltlichen Madrigal entwickelte Monteverdi, mehr als andere Musiker mit ähnlichen Tendenzen wie Giovanni Gabrieli oder Orlando di Lasso, seine sogenannte Monodie, die ganz für sich stehende, nur begleitete Melodik von hoher Ausdruckskraft, woraus dann die ganze Oper wurde, wie sie in Venedig sogleich ihr weitstrahlendes Zentrum fand. Die akkordische Harmonik, die uns heute als Dur und Moll geläufig ist, wendete er (samt mehrchörigen, von der Architektur inspirierten homophonen Klangformen) auch auf die Sakralmusik an, ohne dabei die kunstvolle kontrapunktische Mehrstimmigkeit abzuschaffen.

Aus einer ostinaten Basslinie sollte sich der Generalbass entwickeln, der einem ganzen musikalischen Zeitalter den Begriff gab: eine Basismelodie mit bezifferten Akkorden und freier Stimme darüber, Vokal oder instrumental. Es ist nicht üblich, aber man könnte eine Sammlung einzelner Motetten, also Psalmen und Concerti, Cantus, Hymnen oder Sonate wie den „Vespro della beata vergine“, die „Marienvesper“, als Urform späterer Oratorien bezeichnen.

Unter der Gesamtleitung des Trossinger Chorprofessors Michael Alber traten Sänger und zwölf Vokalsolisten der dortigen Hochschule unter der Anleitung des Gesangsprofessors und Tenors Jan van Elsacker sowie der Kirchenmusikhochschulen aus dem katholischen Rottenburg und dem evangelischen Tübingen, deren ökumenischen Chor Prof. Marius Mack einstudiert hatte, vor das Publikum einer sehr gut besetzten Stiftskirche. Das historisch orientierte Trossinger „Ensemble des XVII. Jahrhunderts“ unter dem Gamben-Professor Lorenz Duftschmid musizierte mit alten Violinen, Gamben, trompetenhaften Zinken, Naturposaunen, Laute und Theorbe und wurde ergänzt durch Musiker der Schola Cantorum Basiliensis.

Viola da Gamba. Foto: Martin Bernklau

Vom Lettner aus erscholl als lateinischer Introitus der Tenorruf („….Herr, eile mir zu helfen!“), den der Chor in mächtigen Akkorden als Responsorium bis zum Halleluja beantwortete, was für damalige Ohren an Wucht und Pracht wohl nicht zu überbieten war. Zwischendurch warf ein Vokalsolist von der Seite unter der Südempore sein „Gloria“ ein und spielten die Instrumente ihre zierreiche Begleitung für die Solomelodien – immer homophon.

Monteverdi ließ diesem Ingressus je fünf Psalmen und Concerti folgen, eine „Sonata sopra Sancta Maria“ als Bittgebet samt dem Hymnus „Ave maris Stella“ sowie das abschließende ungemein dicht am großen Text komponierte, von einer „Amen“-Fuge gekrönte „Magnificat“, in denen sich chorische, sehr freie (bisweilen ohne Dirigent dargebotene) und ausdrucksstarke solistische Passagen abwechselten und in großer, auch rhythmischer Vielfalt von den Instrumenten begleitet wurden.

Die Violinsolisten, Dirigent Michael Alber und links davon der Tenorsolist und Trossinger Gesangsprofessor Jan van Elsacker. Foto: Martin Bernklau

Die Gesangsgruppen waren dabei ganz unterschiedlich aufgestellt: mal doppelchörig gegenüber auf den Seitenemporen, mal solistisch auf der Kanzel, als Echogruppe von Stimme und Instrument sogar akustisch ganz weit zurückgenommen im Grablege-Chor, den am Lettner zusätzlich Glas vom Altarraum trennt. Faszinierend, experimentell, aber auch sehr schlüssig. Was später als Affektenlehre kodifiziert wurde, konnte hier in seiner Enstehung, im Keim, in nuce vernommen werden: die ganz am Text orientierte sogenannte Seconda pratica, zunächst von den Traditionalisten vielfach abgelehnt und bekämpft, aber auch europaweit begeistert begrüßt und übernommen.

Solch komplexe Anordnungen im Raum führten hin und wieder schon zu kurzen minimalen Abweichungen in der rhythmischen Abstimmung. Die nachgebauten alten Instrumente waren auch intonationsanfällig, weshalb oft nachgestimmt werden musste. Aber trotzdem war der Klang vom Allerfeinsten. Die Instrumente vermieden das übertriebene Schwer-Leicht der Anfangszeit historisierender Praxis. Auch der Chor und die Vokalsolisten setzten sehr auf Linie, auf Melodik, durchaus auch mal bis hin zu ornamentaler Koloratur, und führten einen Klang vor, wie er nicht mehr nur an den stilprägenden Hochschulen gepflegt wird und en vogue ist: frei von Vibrato, aber auch kraftvoll prächtig im zehnstimmigen homophonen Doppelchor. Geschmackvoll wurde jeder gregorianische Cantus firmus eingebettet, ob in polyphone Passagen oder akkordische Blöcke.

Was immer noch viel zu selten gelingt, passierte dann: Mit der erbetenen Stille wurde vom tief ergriffenen Publikum lang, sehr lang für diese großartige Musik gedankt. Und als Dirigent Michael Alber dann abnickte, brach ein Jubel mit stehenden Ovationen los, der womöglich noch zehn Minuten anhielt.

Die „Marienvesper“ hat(te) weitere Aufführungen in Stuttgart und in Konstanz. Vielleicht ist diese überwältigende Gemeinschaftsleistung dort festgehalten worden. Sie könnte sich gewiss den Rang einer Reverenz-Aufnahme verdient haben.

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1 Comment

1 Comments

  1. Dorothea Uhlig

    18.05.2025 08:48 at 08:48

    Schönen guten Sonntagmorgen Herr Bernklau,
    die Stiftskirche wurde in der Tat zum Markusdom und ein Klangerlebnis und Klanggenuss ohnegleichen…vor dem Sonntag Kantate. Man wurde beschenkt. Was für eine Magie eine solche Interpretation von Psalmtexten haben kann, konnte man den Zuhörer:innen auf den Gesichtern sehen und abspüren, weil die Klänge zu Herzen gingen und mitmusizierten. Ja, es gibt Dinge zwischen Himmel Erde, von denen wir immer wieder was erleben dürfen und womit wir beschenkt werden. So wie gestern Abend die himmlische Monteverdi Marienvesper.
    Danke für Ihren hervorragenden Kulturblog, Herr Bernklau.

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