Das Tübinger Landestheater bringt Ágota Kristófs Anti-Kriegsroman „Das große Heft“ auf die Bühne
TÜBINGEN. Solche Grausamkeiten lassen sich stilisiert und verfremdet doch leichter ertragen. Ágota Kristófs 1986 in Paris erschienener Antikriegs-Roman, ein Welterfolg, fand aus dem Französischen übersetzt und in der Bearbeitung von Tom Gipfel auf die Tübinger Bühne. Am Freitagabend hatte „Das große Heft“ in der Inszenierung von Sophia Aurich seine Premiere im nicht ganz ausverkauften Großen Saal des LTT.
Kein Ort. Oder jeder. Krieg ist überall. Eine Art Kinderlandverschickung. Die Mutter bringt ihre hübschen Zwillinge (Lucas Riedle und Insa Jebens – im Roman sind es Buben) zur Großmutter (die exzellente Sabine Weithöner in der einzigen echten Rolle), die in ärmlichsten, erbärmlichsten, dreckigsten Verhältnissen auf dem Land lebt. Im Dorf gilt sie als humpelnde Hexe, die ihren Mann vergiftet haben soll. Mit sadistischer Härte quält und demütigt die Alte die Kinder: „Ich werde euch zeigen, wo’s langgeht, Hundesöhne!“
Aber die Enkel wissen sich zu wehren. Abhärten wollen sie sich, das Leid ertragen lernen. Sie erleben das Böse, ertragen das Böse: Macht und Missbrauch, Gewalt, Erniedrigung, Vergewaltigung, Folter, Mord und Totschlag. Und sie erlernen das Böse: betteln, hungern, stehlen und erpressen fürs Überleben. „Man muss töten können“, wissen sie bald. Erst Katzen, dann Hühner, dann Menschen.
Hin und wieder gibt es auch Güte: eine wärmende Decke vom Adjutanten, dem fremden, etwas klischeehaft mit Infinitiven radebrechenden Soldaten (Jonas Hellenkemper in einer von vielen seiner Nebenrollen als Deserteur, Postbote, Polizist); oder Stiefel vom Schuster, der irgendwann abgeholt wird und umkommt in Haft oder Lager (Andreas Guglielmetti gibt auch den Offizier, den Pfarrer und am Ende den Vater).
Die noch elender vegetierende Hasenscharte – Emma Schoepe hat hier, dazu als Mutter und als Magd auch etwas größere, durchgängigere Rollen – könnte Verbündete sein im Leid. Sie wird vom Pfarrer missbraucht, lässt sich vom Hund lecken und besteigen, gibt Sex gegen Geld. Die Zwillinge revanchieren sich mit dem Schweigegeld, das sie vom fingernden Pfarrer erpressen.
Die Dichterin, in einem ungarischen Dorf geboren und aufgewachsen, hat den Krieg als Kind erlebt, floh nach dem Aufstand von 1956 gegen die kommunistische Diktatur in die Schweiz und begann, nach mühsamstem Spracherwerb, auf Französisch zu schreiben, in einer knappen, kalten, konzentrierten Diktion. Ágota Kristóf bekam zahllose Preise dafür.
Die Inszenierung kämpft gegen die gegebenen Schwierigkeiten an. Es muss viel beschrieben und erzählt werden, vom Hexenhaus bis zur Sodomie. Das Zeigen, das Vorführen, das Schauspiel eben, es kommt nie nach. Das ist die Crux von Bühnenfassungen. Der Film hat es etwas leichter mit der Dramatisierung von literarischem Stoff. Hier ist zudem das Personal begrenzt, die Mehrfachrollen machen Mühe.
Sophia Aurich macht es sich und ihrem Ensemble aber auch schwer, zuweilen unnötig schwer. Die fließenden Geschlechterwechsel behindern die Schauspielern bei ihrer Identitätsfindung und die Zuschauer bei der Identifizierung. Bei der Badeszene wirkt die gemischt-geschlechtliche Besetzung dann schon widersinnig.
Beim Zwillingspaar kommen weitere Mankos hinzu: das trendige chorische Sprechen, synchron im Doppelpaar, klingt zwangsläufig aufgesagt und hemmt freies Spiel doch schon stark. Insa Jebens und Lucas Riedle muten manchmal geradezu puppenhaft, roboterhaft an. Da kann sich schauspielerisch nichts entfalten, oder nur wenig. So sinnfällig das Stilmittel hier erscheinen mag, durchgängig eingesetzt wird es zur manierierten Marotte. Der Text muss kindisch, irgendwann fast affig wirken. Mit der Zeit wird es lästig.
Die dreifach transparent gestaffelte Bühne von Martha Pinsker im klaren, halb-abstrakten LTT-Stil gestaltet, ist wunderbar und praktisch. Bei ihren Kostümen und Accessoires hätte sie mit klareren Zeichen dem Publikum die Identifizierung, Zuordnung und Wiedererkennung noch etwas leichter machen dürfen, die schon durch die Mehrfachrollen beeinträchtigt ist.
Der Einsatz von Kamera und Video-Einspielern (Aaron Geiger, Uwe Hinkel) ist handwerklich virtuos. Wenn sich der Offizier von den Zwillingen ins Gesicht pissen lässt, ist die filmisch un-pornografische Visualisierung durch Nahaufnahme überzeugend. Doch nicht immer erschließt sich der theatralische Sinn. Das ist auch bei der Kamera so – wann, wie und weshalb die zweite Perspektive? – und bei häufigen Verwendung der Masken, die nebenbei der Verständlichkeit abträglich sind. Einfach ein Corona-Symbol? Signet von Sprachlosigkeit der Ohnmächtigen? Man weiß es nicht so recht.
Das gilt – trendiges LTT-Markenzeichen – auch für den englisch-sprachigen Song, den Emma Schoepe – als Mutter, als Magd? – sehr versiert vorträgt. Was aber will er sagen, ausdrücken, verdeutlichen, illustrieren? Die Musik von Friederike Bernhardt ist zuweilen etwas dick, semantisch-emotional etwas stark aufgeladen, wie in älteren Filmen. Aber die Inszenierung hat auch wunderbare Momente von geduldig langer Stille. Es gibt gute Einfälle: Als der Krieg doch ins Dorf kommt und eine Granate die Mutter samt Baby-Geschwisterchen zerfetzt, gibt es auf der Bühne einen Blackout und auf den Rängen grellstes Licht.
Dann kommt ein Zeitsprung, ein Tempowechsel auch. Der wohl in Gefangenschaft verschollene Vater kehrt heim, kann die Leichenreste seiner Frau nur noch aus dem Erdhügel ausgraben und bricht zusammen, als er wegen des mitverbuddelten Babys der Untreue gewahr wird. Mit dem Schlaganfall der verhassten und doch auch geliebten Großmutter kommt es gar zu dicke: aufpäppeln, pflegen, aber Sterbehilfe schließlich; Waterbaording-Folter durch neue Besatzer-Soldaten; Flucht durch ein Minenfeld. Die zynischen Zwillinge schicken den Vater vor – als Minenhund in den Tod. Und trennen sich dann. Im Roman das tiefste Trauma. Der Video-Einspieler verfolgt den einen, der andere Zwilling bleibt auf der Bühne zurück. Elegische Klavierklänge.
Eine vielleicht überladene, nicht immer ganz klare Inszenierung eines düsteren Romanstoffs bekam langen, aber nicht allzu frenetischen Applaus. An Erstarrung durch die ganzen Grausamkeiten, an Verstörung wegen all der Fülle von Gewalt wird das kaum gelegen haben. Die kamen mit genug distanzierender Verfremdung auf die Bühne. Vielleicht konnten sich die seelischen Verwüstungen durch den allgegenwärtigen Krieg schauspielerisch nicht mit voller Intensität darstellen lassen.
In eigener Sache: Mich freut die überwältigende, fast durchweg positive Resonanz auf diesen Kulturblog. Bei Zuschriften an martinbernklau@web.de, die zur zeitnahen Veröffentlichung unter dem Beitrag in www.cul-tu-re.de gedacht sind, sollte mir dieser Wunsch eindeutig erkennbar sein. Danke.
Martin Bernklau