Bühne

LTT queer – Blut, Scheiß und Sperma

Kim de L’Horizons „Blutbuch“ als Szenische Lesung und Beitrag des Tübinger Landestheaters zum queeren „Pride Month“

TÜBINGEN. Die „nonbinäre Person“ des „genderfluiden“ Autors (generisches Maskulinum) Kim de L’Horizon hat vor zwei Jahren mit ihrem Roman „Blutbuch“ Aufsehen erregt und den Deutschen und den Schweizer Buchpreis gewonnen. Das LTT konnte Kim für eine Lesung als Beitrag zum queeren „Pride Month“ Juni zwar nicht persönlich gewinnen, da unabkömmlich wegen „Hexerei-Studien“. Regisseurin Luise Leschik und Dramaturgin Christine Richter-Nilsson aber haben aus dem Buch eine Szenische Lesung gemacht, die am Donnerstagabend nach nur vier Proben mit den Schauspielerinnen Solveig Eger, Jennifer Kornprobst, Emmo Schoepe, Toni Pitschmann und dem Schauspieler Lucas Riedle im oberen LTT zu einer sehr beachtlichen und – auch von der queeren Community – ganz gut besuchten Aufführung kam.

Blutbuch – Szene einer queeren Lesung. Fotos: Martin Bernklau

Die krasse, vor allem sexuelle Drastik des Inhalts und der Sprache allein kann keinen Skandal mehr machen. Aber genau wegen des Reichtums, der Vielfalt, der Tiefe und des Tempos seiner Sprache ist der am 9. Mai 1992 nahe der Schweizerischen Bundesstadt Bern als Dominik Holzer zur Welt gekommene Kim de L’Horizon völlig zu Recht mit diesen Preisen ausgezeichnet worden. Sein Roman ist vielleicht der deutschsprachige Schlüsseltext zu diesem gesellschaftlich-kulturellen Phänomen, das sich als queer unter dem Label LGBTQ oder dem jüngsten Rubrum LSBTQIA+ zusammenfindet.

Das „Blutbuch“ beschreibt nicht einfach den Versuch der sexuellen Identitätsfindung einer Person, die sich keinem der beiden biologischen Geschlechter und auch keiner sexuellen Orientierung als lesbisch, schwul oder hetero zuordnen kann und will. Es ist nicht einfach ein aktuelles literarisches Coming of Age. Es ist auch keine bloße Beschreibung exzessiver und extremer sexueller Praxis oder eines grenzen-, orientierungs- und haltlos ausufernden Beziehungslebens, von Drogen- und Ficksucht. Es ist auch eine autofiktionale Kindheits- und Familiengeschichte von subtiler und sensibler Spurensuche und eine kulturgeschwängerte Reflexion auf teilweise durchaus anspruchsvollem intellektuellen Niveau.

Das Buch ist in den Leitfarben Blau und Rot gedruckt, an die sich diese theatralische Visualisierung oder Performance des LTT-Teams in Licht und Kostümen sehr stilvoll hält. Immer wieder kreisen Kim de L’Horizons Worte auch um Gegenstände aus der konventionellen, geradezu konservativen Schweizer Lebenswelt seiner Kindheit (wie Tisch, Baumleiter, Besteck und Geschirr, Sessel und Spiegel), die als Leitmotive ebenso Verwendung finden wie die personalen Schlüsselworte für die Schlüsselfiguren Grand Mère als Oma, Mère und Père als Eltern. Ein schöner, zarter Satz: „Vielleicht ist Heimat kein Ort, sondern eine Zeit.“

Podiums- und Publikums-Gespräch im Anschluss an die szenische „Blutbuch“-Lesung.

Das auf dreißig Seiten eingedampfte Kondensat enthält so viel Wesentliches wie für zartere Seelen möglicherweise Schockierendes aus den dreihundert Buchseiten, dass die Dramaturgin in ihrer Einführung eine Trigger-Warnung für angebracht hielt. Für ihre Tabulosigkeit im Ausleben aller Triebe rühmt sich die queere Szene ja, aber es lässt sich alles – und das tut das Buch – noch um eine oder eine zweite Drehung mehr ins Maßlose steigern. Da mag man sich bis weit über jede Schmerzgrenze hinaus von allen erreichbaren Schwänzen oder Fäusten in alle drei Öffnungen durchficken oder durchfisten lassen, oder man tut das vice versa irgendjemand Willigem an und suhlt sich sodann vereint in Schweiß, Pisse, Kot und Sperma.

Das ist aber nicht entscheidend.

Das Fragwürdige dieses Verstörens durch Verstörtheit beginnt da, wo unter dem Deckmantel queerer Vielfalt und Toleranz übelster Menschenverachtung gehuldigt wird, immanenter Frauenfeindlichkeit und gnadenlosem Sexismus, ebenso wie bedenkenlosen Rassismen („BBC“, die prall-steifen Prügel von „Big Black Cocks“ sind halt doch ganz was Geiles), antisemitischen Klischees (die Vor-und Nachteile der beschnittenen Vorhaut) oder bedenkenlosem „Neo-Kolonialismus“. Farid, das türkisch-orientalische Lustobjekt – „stimmt, einen Libanesen hatte ich noch nicht“, – wird vom Erzähler-Ich für seinen schwarz behaarten Muskelbody gerühmt. Ein ausgeleierter Arsch allerdings mindert die „Fuckability“, die Attraktivität als Sexobjekt, so wie das einst die „ausgeleierte Fotze“ bei der Verächtlichmachung von Frauen durch die üblen Hetero-Machos tat.

Kleiner Exkurs: Eine völlig außer Mode gekommene Denkschule nannte das „Verdinglichung“, sah die Entwürdigung des Menschen zur (Tausch-)Ware. Nicht nur hierbei fällt auf, dass die öffentlich so schrill und laut in Erscheinung tretenden Figuren fast durchweg biologische Männer sind, die als „Transfrauen“ benannt und „gelesen“ und respektiert werden wollen: Die haben sich den klassischen Feminismus, alle traditionelle schwule und lesbische Bewegung und Bewegtheit inzwischen geradezu gekapert, unterworfen und damit marginalisiert. Man erinnere sich der (auch Tübinger) Terre des femmes-Affäre oder der Herabwürdigung klassischer Feministinnen zu sogenannten TERFs durch Figuren wie Butler, Böhmermann oder Bosetti.

Wer sich solcherart Gesinnungsdiktatur partout nicht beugen und fügen will, der wird ausgegrenzt, gecancelt und als „queerfeindlich“ oder „rechts“, gar als „Nazi“ geframet und brandmarkt, so radikal links er – oder radikal feministisch sie – auch immer sein mag. Sogar Peitsche und Knüppel des Strafrechts will man den so Geschassten und Verhassten am liebsten auf den Hals hetzen.

Aber zurück zum engeren Thema: Das dominante Demütigen, Beschimpfen, Erniedrigen und Quälen des devoten, in auftätowierten Strichlisten abgefeierten, abgemeierten und abgelegten Fickpartners, wie es das „Blutbuch“ schildert und unumwunden feiert, kann dennoch als das hemmungslose Ausleben von widerwärtigem Machtwillen gewertet werden, so willig und freiwillig die passive Person das zu einem Stück Dreck Durchgeficktwerden auch als Lust empfinden mag. Der Erzähler des „Blutbuchs“ wechselt auch hier nicht nur die Perspektive, sondern zugleich eine – erfahrungsgemäß in einer Person eher unvereinbare – sexuelle Orientierung zwischen Sado und Maso.

Der französische Arzt, Faschist und fanatische Judenhasser Louis-Ferdinand Céline hat wüste und widerwärtige Bücher geschrieben, die trotzdem faszinierende Literatur sind. So darf man das beim „Blutbuch“ vielleicht auch lesen und sehen. Kim de L’Horizons Text zu kennen und in einer sehr gekonnten szenisch-rezitativischen Form nahegebracht zu bekommen, das kann eigentlich nicht schaden, zumal es ja noch keine Identifizierung mit einer durchaus fragwürdigen und kritisierbaren queeren Denkungs- und Lebensart bedeutet.

Auch ein analytisch-wissenschaftlicher Umgang mit dem Stoff hätte nützlich und erhellend sein können. Wie der Gastmoderator PH Dr. Gero Bauer vom „Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung der Universität Tübingen“ allerdings das Publikumsgespräch aufzog, als tuntig-queeres Kaffeekränzchen mit viel Gekicher und infantilen Fragen an die Schauspielerinnen, die Dramaturgin und den Schauspieler („Wie habt ihr euch gefühlt, hihi?“), das war ein bisschen arg peinlich.

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