Im Tübinger Zimmertheater hat „Im Taumel des Zorns“ mit der vierten Folge seine Mitte erreicht
TÜBINGEN. Am Theater heißt das „Bergfest“. Das feiert man, wenn die Hälfte der Aufführungen erreicht ist. Für die siebenteilige Reihe „Im Taumel des Zorns“ am Tübinger Zimmertheater hat es eine leicht andere Nuance, weil das ja eigene Stücke, eigene Texte, eigene Inszenierungen und eigene Premieren sind. Die ausverkaufte vierte Episode am Samstagabend war von Anaïs Clerc geschrieben. Isabella Sedlak hat sie inszeniert.
Es gibt viel Neues im Krimi um die Krankenhaus-Apothekerin Cecilia und ihre Mitarbeiterin Merit, die nächtens von einem Trio als Geiseln genommen werden, das sich eigentlich nur Betäubungsmittel zum Verticken verschaffen wollte: dem ehemaligen Bufdi Ove, der sich dort auskennt, seinem Freund Ove, dem Journalisten, und dessen krebskranker Cousine Holle. Nun soll der missglückte Einbruch öffentlichkeitswirksam zur Protestaktion gegen finstere Machenschaften im Pharma-Klinik-Komplex umgewidmet werden.
Auf Valentin Baumeisters wunderbarer weißer Bühne wird es grün. Denn die entlassene Apothekerin hat nicht nur irgendwelchen Dreck am Stecken, sie hat auch einen Pflanzentick. Und um Cecilia (Lauretta van der Merwe) in ihrer Midlife Crisis geht es in dieser Folge ebenso wie um Merit, die im Stück bisher eher die graue Maus war und jetzt mit ihrer Geschichte und einem überraschenden Seitenwechsel gleichfalls ins Rampenlicht rückt. Seraina Löschau bringt richtig Leben in die Figur. Vom Gangster-Trio tritt diesmal nur Cyril Hilfiker auf. Aber nicht nur als Enno, vom Journalisten zum Aktivisten geworden, sondern in mehreren Traumrollen.
Als Entrée wird der Indoor Jungle, Cecilias grüne Hölle, von maskiertem Personal eingerichtet mit einem botanischen Wandteppich und reichlich prächtigen Zimmerpflanzen. Die Flora spricht – als Pflanzenchor im Wechsel mit der träumend erinnernden und klagenden Cecilia. Und auch die Fauna schleicht sich ein. Als Kater Linnaeus schmust Cyril Hilfiker sein Frauchen an. Später, als halluzinierte Britney Spears, führt er eine Anakonda spazieren. Ein, zwei parodistische Songs gibt es auch – vom Publikum, das viel gluckst, feixt und oft lauthals lacht über manche Anspielung oder Situationskomik, frenetisch bejubelt.
Der Sprengstoff ist angerichtet. Angst kommt angekrochen bei den Geiseln. Nicht nur die damenhaft gealterte Cecilia trauert ihrem Yuri nach und all den verpassten Chancen ihres leeren Lebens, auch ihre junge Assistentin Merit hat einen Verflossenen, mit dem sie ein ganz neues Leben beginnen wollte, nachdem sie als Backpackerin oder als Stewardess zwischen Dubai und Finnland den Planeten erkundet hat. Mit Alvaro Kinder kriegen. Cecilia will fliehen, ihr bisschen Leben retten. Merit aber macht einen Schwenk, der mehr ist als ein Stockholm-Syndrom.
Es gab da eine Freundin namens Gyde, am Krebs gestorben. Und diesbezüglich hat Merit noch ein Hühnchen zu rupfen mit ihrer Chefin. Wo doch auch Holle krebskrank ist, liegt es nahe, sich mit den Geiselnehmern zu verbünden, um Cecilia ein Geständnis abzuringen, mit dem auch die Öffentlicheit aufgeklärt wird über das Finstere, was da zwischen Klinik und Apotheke gemauschelt worden war.
Den Geiselnehmer Enno sucht die Vergangenheit hingegen in ganz anderer Gestalt heim. Als Vision oder „in echt“, als eine Art Erinnye des Berufs, tritt die viel erfolgreichere Journalisten-Kollegin Janina Schmidke auf, von Merit-Darstellerin Seraina Löschau ganz cool und arrogant gegeben. Ein wenig am Rande kommt ans Licht, dass auch in Ennos Liebesbeziehung zu Ove, dem Komplizen, nicht alles Gold ist, was glänzt. Enno liked eifrig in „isländischen Dating Apps“.
Auch Merit ist nicht ganz raus aus der Gefahr, nachdem sie die Seiten gewechselt und die Beziehung zur Chefin aufgegeben hat. Auch sie philosophiert über den Sinn und die Leere des Lebens. Was ist Wahrheit? Aber vor allem die larmoyante Cecilia jammert und greint in der Stunde ihres drohenden Todes allem Verpassten und Verlorenen nach: „Verlasst mich nicht!“
Das sind Schlaglichter auf Lebensentwürfe und Beziehungs-Varianten – übrigens diesmal besonders spannend beleuchtet von Clemens Mergners Licht- und Tontechnik. Ganz neue Perspektiven, nachdem bis jetzt das Gangster-Trio die Musik spielte. Am Schluss gibt’s als Cliffhanger wieder ein Wummern, halb Erdbeben, halb Explosion. Es muss ja spannend bleiben.
In eigener Sache: Mich freut die überwältigende, fast durchweg positive Resonanz auf diesen Kulturblog. Bei Zuschriften an martinbernklau@web.de, die zur zeitnahen Veröffentlichung unter dem Beitrag in www.cul-tu-re.de gedacht sind, sollte mir dieser Wunsch eindeutig erkennbar sein. Danke.
Martin Bernklau